Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Kellnerinnen, ihre Arbeit zu unterbrechen. »Ladies and Gentlemen, George Lukasser, the Genius!«
    »Ein schwer definierbares Widerstreben ging von ihm aus«, erzählte Carl. »Der Zauber öffentlich zur Schau gestellter schlechter Laune. Er wirkte so hilflos. Wie ein Anfänger wirkte er. Als würde er zum erstenmal vor einem Publikum spielen und niemand hätte ihm gezeigt, wie das geht. Er war schon ein schlauer Hund und berechnend! Er tat alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und wenn ihn die Leute auch nur deshalb anstarrten, weil sie darauf warteten, daß er das Übergewicht bekommt und vornüber von der Bühne fällt, solange sie still waren und nicht in eine andere Richtung schauten, war es ihm recht.«
    Mein Vater war die Sensation des Abends; er war die Sensation des Clubs für über ein Jahr.
    Am Anfang galt er wohl als eine Kuriosität; er spielte ein Instrument, wie die Amerikaner noch nie eines gesehen hatten, eine Gitarre mit zwei Hälsen, mit einem normalen Gitarrenhals für sechs Seiten und einem, der weiter oben aus dem Resonanzkasten trat, an dem sieben Baßsaiten aufgespannt waren, die aber nicht über ein Griffbrett liefen, also nicht gedrückt wurden, sondern nur angeschlagen oder gezupft. Carl, der in Wien aufgewachsen und seit seiner Kindheit selbstverständlich immer wieder in Heurigenlokalen gewesen war, war dieses Instrument vertraut, darüber staunte er nicht; aber über die Musik, die er zu hören bekam, staunte er. Dieser schmächtige Mann, dessen Alter er nicht schätzen konnte, trug keine Schrammeln vor, wie die Contragitarre erwarten ließ; er eröffnete mit Cole Porters In the Still of the Night , tat dabei aber so, als wäre diese Nummer in Wahrheit ein Schrammelstück, das erst er in ein Jazzstück umkrempelte. Als zweite Nummer gab er einen Walzer von Lanner, dessen Melodie er aber nur einen flotten Durchgang gönnte, ehe er darüber zu improvisieren begann, und zwar in so aberwitzigen polytonalen Bögen, daß Carl, wie er erzählte, der Kehlkopf weh getan habe, so sehr habe alles in ihm darum gefleht, die Lannersche Melodie singend aufrechtzuhalten, damit dieser tollkühne Gitarrist dort auf der Bühne nur ja nicht den Weg durch das Minenfeld seiner Improvisation verliere. Es folgte Ellingtons In a Sentimental Mood – mein Vater habe den Titel mürrisch in fadenscheinigem Englisch angekündigt und ein beiläufiges Entree hingelegt, bestehend aus, wie Carl bei späteren Auftritten mitzählte, fünfundzwanzig Akkorden, ehe er in diese so freundliche, sonnige Romanze einbog, die er wieder in einer Weise interpretierte, daß man glauben wollte, der Duke habe das Stück nach einem Heurigenbesuch in Grinzing komponiert. Den weiteren Abend bestritt er mit eigenen Kompositionen und Improvisationen zu spontanen Einfällen.
    Die Zuhörer waren begeistert; begeistert von der Virtuosität und der Vielfalt der musikalischen Einfälle und sicher auch von der sperrigen Erscheinung meines Vaters. Carl aber war tief berührt, und er wäre, wie er sagte, gern allein gewesen und hätte Stille um sich gehabt. Nie vorher habe er einen Musiker gehört, dem es in solcher Vollkommenheit gelungen sei, Ton und Empfindung in eins zu setzen. Nicht Musik aus Musik habe er gehört; Bezugnahme auf andere Gitarristen, Zitate aus anderen Stücken, wie sie bei den Improvisationen des Bebop üblich waren, gab es in dieser Musik nicht. »Ich hatte das angenehm unangenehme Gefühl, doch so etwas wie eine Seele zu besitzen«, erzählte Carl immer wieder – mein Vater wand sich vor Verlegenheit, wenn er mithörte; sicher war er auch stolz, vor allem aber war er ungeduldig, weil es immer das gleiche war, was ihm an Lob geboten wurde, und nicht einmal eine kleine Steigerung oder wenigstens eine neue überraschende Wendung. »Es war, als ob er zu uns spräche, ohne Umweg, sogar ohne den Umweg über die Musik, so paradox das klingen mag. Nicht zu einem Publikum sprach er. Publikum ist überall. Publikum ist ein Begriff, der gleichmacht. Jeder im Club durfte sich sagen: Er spricht zu mir, in Wahrheit spricht er nur zu mir. Und jeder hat ihn verstanden. Da saßen Franzosen, Amerikaner, Briten, Österreicher, Ungarn, Tschechen, und ich versichere euch, hätte sich einer der Mühe unterzogen, jeden einzelnen nach dem Konzert zu bitten, er möge aufschreiben, was der Bursche vorne auf der Bühne hinter der komischen Gitarre seiner Meinung nach erzählt habe, man hätte hinterher einen Packen Papier in der Hand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher