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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Damit hatte sie nicht unrecht; Carl hätte ihr zugestimmt. Aber sein lebenslanges Interesse, seine Treue, ich darf sagen, seine Liebe zu meinem Vater sind damit natürlich nicht erklärt. Ich habe mich oft gefragt, worüber die beiden eigentlich redeten, wenn sie nicht über Musik redeten. Von meinem Vater wußte ich, daß er über alles redete, außer über Musik, daß er zu allem eine Meinung hatte, außer zur Musik. Das meiste war Quatsch, was er redete, halbwahr und von seinen Vorurteilen diktiert. Also worüber redeten die beiden?
3
    Carl hatte gute Kontakte zu den Amerikanern in Wien. Er verschaffte meinem Vater Auftritte in allen wichtigen Jazzclubs der Stadt, und überall war man überwältigt von der Fulminanz dieses Wunderkindes. Tatsächlich war die Synthese aus Wienerlied, Swing und Bebop und die eigentümliche Spielweise auf diesem eigentümlichen Instrument etwas im Wortsinn Unerhörtes. Und dann geschah ein Wunder: Die amerikanische Jazz-Zeitschrift down beat wurde auf meinen Vater aufmerksam. Wie es dazu gekommen war, weiß ich nicht, und Carl weiß es auch nicht – behauptete er; jedenfalls sei eines Abends John Maher persönlich, der Herausgeber des Magazins, im Embassy-Club aufgetaucht und habe sich meinen Vater angehört. Am Schluß jauchzte er und trampelte mit den Füßen, zeigte seine Zähne, raufte sich den Hosenbund bis unter die Brustwarzen und fragte, wer der Manager dieses Magiers sei, und der Clubbesitzer führte ihn – als bestehe nicht der geringste Zweifel – zu Carls Tisch. Maher schlug vor, Carl solle meinen Vater für down beat interviewen. So war der Name Georg Lukasser zum erstenmal in Amerika zu lesen.
    In diesem Interview erzählte mein Vater sonderbare Dinge; das heißt, was er erzählte, war weniger sonderbar als die Art, wie er es erzählte: sprunghaft, in derben Worten, ressentimentgeladen, fanatisch; Großes wie Krieg und Frieden kommentierte er mit dünnen dümmlichen Phrasen, auf unwichtige Dinge dagegen ging er akribisch ein, so zum Beispiel, wenn er beschrieb, wie sich der alte, hochverehrte, weißmähnige, weißbärtige, griesgrämige Contragitarristenkönig Anton Strohmayer vor seinen Auftritten die Fingernägel gefeilt habe. Carl notierte den Sermon, sorgte bei der Reinschrift dafür, daß die Sätze halbwegs den grammatikalischen Regeln folgten, beließ aber, ja, verstärkte sogar, wie er später zugab, die skurrilen Eigenheiten und übersetzte schließlich alles ins Englische. Es war die Zeit, als der Swing in Amerika klassisch wurde und der Bebop zu einer explosiven Blüte ansetzte; wer selbst nicht mitspielen konnte, schrieb darüber, aus jedem Rülpser eines Ben Webster, eines Charlie Parker, eines Max Roach oder eines Dizzy Gillespie wurde eine Philosophie gezopft, die verminderte Quint wurde als akustische Ikone jenes Lebensgefühls gefeiert, das die Franzosen wenig später Existentialismus nannten, und alle waren auf der Suche nach originalen – eben sprunghaften, derben, ressentimentgeladenen, fanatischen – Genies, die nicht zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden wollten und, wenn möglich, Autodidakten waren. Im Bebop herrschte das Tenorsaxophon, aber das Tenor bot den federführenden Feinspitzen inzwischen nur noch wenig Überraschung, die Gitarre schob sich ins Zentrum ihres Interesses – Charlie Christian wurde wiederentdeckt, Django Reinhardt war in New York wie ein Gott gefeiert worden. Für die Amerikaner war Österreich, falls sie überhaupt etwas über dieses Land wußten, ein dumpf-bäuerlicher Hinterwald, aus dem Adolf Hitler gekrochen war, um Europa anzuzünden, und wenn von dort Nachricht über einen Jazzer eintraf, war das mehr als nur exotisch. In der amerikanischen »Fachwelt« löste das Interview großes Interesse aus. Art Hodges, selbst Pianist und nebenbei Mitherausgeber der Konkurrenzzeitschrift Jazz Record , schrieb im folgenden Heft von down beat einen Gastkommentar über europäischen Jazz, und in einem Absatz ging er auf meinen Vater, diesen »neuen Stern mit dem komischen Instrument«, ein und forderte Aufnahmen. Der Mann solle nach New York kommen, schrieb er; wenn es für Künstler wie ihn auf dieser Welt einen Platz gebe, sei der hier und nirgendwo sonst. Obendrein meldete sich auch noch das exklusive Jazz Label Blue Note beim »Manager« meines Vaters. Carl hatte in den dreißiger Jahren in New York das Entstehen einer unabhängigen Studio- und Vertriebsszene miterlebt, er war oft in Milton Gablers
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