Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
gehalten, beschrieben in einem halben Dutzend Sprachen, aber auf jedem Blatt wäre die gleiche Geschichte gestanden.«
    Nachdem er ihn drei Abende hintereinander gehört hatte, trat Carl vor meinen Vater hin, stellte sich vor und sagte etwas Verhängnisvolles, nämlich: Er kenne nur einen, der auf der Gitarre ebenso unmittelbar zu den Menschen spreche, nämlich Django Reinhardt. Den Namen dieses Gitarristen hatte mein Vater schon gehört, seine Musik aber noch nicht. Also lud ihn Carl zu sich nach Hause ein und spielte ihm auf dem elektrischen Grammophon eine Aufnahme des Quintette du Hot Club de France mit Django Reinhardt auf der Gitarre und Stéphane Grappelli auf der Geige vor. Und wie hat mein Vater darauf reagiert? So: Er war empört. Er war beleidigt. Er war eifersüchtig. Er war verzweifelt. Die Tränen standen ihm in den Augen. – Ich kann mir gut vorstellen, wie das aussah, ich habe ähnliche Momente erlebt: Seine Augen waren alt, kalt, reglos wie immer, aber die Tränen stiegen in ihnen auf, als würden sie aus dem Körper nach oben gepumpt. – Was der Herr Doktor damit bezwecke, ihm so etwas vorzuspielen, fragte er. Was für ein Vergnügen es dem Herrn Doktor bereite, ihm zu erzählen, daß dieser Zigeuner eine kaputte Griffhand habe? Ob ihn der Herr Doktor demütigen wolle? Ob er ihm damit sagen wolle, es habe keinen Zweck, wenn er weiter Läufe und Akkordfolgen übe, weil der mit nur einer halben Hand so viel besser spiele? Und so weiter. Carl war perplex. Aber er sah meinem Vater an, daß die Gedanken in seinem Kopf uferlos geworden waren, daß er verzweifelte, als hätte Django Reinhardt mit dieser knapp vier Minuten dauernden Improvisation über Tschaikowskys Pathétique ihm alle Zukunft genommen. »Django Reinhardt ist der Beste«, habe Carl gestammelt, »und Sie sind genauso gut wie er! Ist es denn eine Schande, so gut wie Django Reinhardt zu sein?« Er habe sich gedacht, er müsse angeben, müsse sich aufplustern, erzählte Carl, sonst höre dieser närrische Bursche mit dem Körper eines Kindes und den Augen eines alten Mannes nicht auf ihn. »Ich mußte ihn doch irgendwie überzeugen, daß meine Begeisterung Wert hat!« Er herrschte ihn mit Befehlsstimme an: »Hören Sie zu! Ich darf mit ruhigem Gewissen von mir behaupten, ein wirklich exzellenter Jazzkenner zu sein, und was ich sagen will, ist folgendes: Ich habe fast ein Jahr in New York gelebt, ich kenne alle Clubs dieser Stadt, ich habe Lester Young auf seinem Tenor spielen hören, allein und mit Count Basie, habe Billie Holiday singen hören und habe Fletcher Henderson die Hand gegeben. Ich war einer der wenigen Weißen, die im Savoy in Harlem Zutritt hatten, und ich war dort an dem Tag, als es geschlossen wurde. Sie können mir also glauben, ich habe viele Gitarristen gehört, die etwa in Ihrem Alter sind, Herr Lukasser. Ich habe Barney Kessel gehört und Teddy Bunn, Jimmy Shirley und George Barnes, aber keiner von denen – nicht einer! – hat auch nur annähernd soviel Talent wie Sie!«
    Von den genannten Gitarristen hatte mein Vater noch nie etwas gehört. »Wenn sie nicht so gut sind wie ich, brauche ich sie nicht zu kennen.«
    »Sie sind nicht so gut.«
    »Wirklich nicht?«
    »Wirklich nicht.«
    »Aber sie spielen in New York.«
    »Aber sie sind nicht so gut wie Sie, und sie werden es nie sein.«
    »Und diesen Zigeuner, den haben Sie auch spielen gesehen?«
    »Ja, natürlich. Vor dem Krieg in Paris.«
    »Und auf der Bühne ist er nicht schlechter als auf der Schallplatte?«
    »Er ist auf der Bühne besser.«
    »Noch besser!« schrie mein Vater auf. »Sogar noch besser! Und ich? Was bin ich? Was kann ich neben dem schon sein?«
    Bestenfalls, dachte Carl, kann er nicht logisch denken, schlimmstenfalls ist er paranoid.
    Aber er hatte einen Narren an meinem Vater gefressen; und er sah es als seine Aufgabe an, die außerordentliche Begabung dieses jungen alten Mannes zu fördern, diesen außerordentlich komplizierten und – das war ihm schon nach dem ersten Gespräch überdeutlich klar geworden – zerstörerischen Charakter vor der Welt und vor sich selbst zu beschützen. Meine Mutter, die lange ein – um es vorsichtig auszudrücken – distanziertes Verhältnis zu Carl hatte (und erst nach dem Tod meines Vaters unter seinen Einfluß geriet), war immer der Meinung gewesen, Carl bediente sich des Talents meines Vaters, um sich damit zu schmücken und seine eigene allumfassende Talentlosigkeit für sich selbst erträglicher zu machen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher