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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gesicht. Saß in Unterhosen und Unterhemd bei seiner Mutter am Küchentisch und war grob zu ihr. Aß nichts. Aber trank. Ich glaube nicht, daß er damals mit dem Trinken begonnen hat; er hat vorher sicher auch schon getrunken; aber nun nahm das Trinken einen anderen Charakter an.
    Er hielt es bald nicht mehr aus, zu Hause zu sitzen und sich auszudenken, wie sein Konkurrent vom Publikum auf Händen getragen wurde. Er schlich sich in den Club, blieb hinten bei den Toiletten stehen und schaute sich an, wie dieser Ungar mit dem breiten Lausbubengesicht auf der Bühne saß und dabei lässigen Umgang mit einer elektrischen Gitarre pflegte, einer amerikanischen, deren Korpus eingeschnitten war, so daß man bequem auf den obersten Lagen spielen konnte. Attila war gerade einundzwanzig geworden. Er wollte Geld verdienen. So ein Abend im Embassy-Club war für ihn ein Job und hatte mit Kunst wenig zu tun. Der Besitzer hatte zu Attila gesagt, man wünsche sich nach der doch eher schweren Kost der vorangegangenen Monate etwas Leichtes, und weil Attila so gut wie alles spielen konnte, spielte er eben etwas Leichtes, konventionellen Swing. Daß ausgerechnet dieser immer etwas wie benebelt grinsende Mann Jahre später zum Wegbereiter des Free Jazz werden sollte, das konnte damals im Embassy keiner ahnen. Aber es war nicht etwa die unambitionierte Simplizität dessen, was hier geboten wurde, die meinen Vater beunruhigte. Im Gegenteil. Sein musikalisches Ideal war nämlich durchaus schlicht. Die Musik, die er in jedem wachen Augenblick und wohl auch träumend in seinem Kopf hörte, war volkstümlich fröhlich, einfach und melodiös (die Beatles – viel später – kamen diesem Ideal sehr nahe, und längst bevor die »Fachwelt« zur großen Verbeugung ausholte, brüllte er in seine Welt hinaus, die vier Liverpooler seien so groß wie Mozart). Das Ziel war das Reine, Leichte, Einfältige; die bekannten musikalischen Wege aber, die dorthin führten, fand er ausgetreten, touristisch verwahrlost, vom Radio verkitscht, von purer Fingerfertigkeit zugeschmiert, verdreckt, dem Ideal unwürdig und schädlich. Seine Versuche, neue Breschen durch den Dschungel der Töne zu schlagen, ließ er vor sich selbst jedoch nicht als eine neue Musik gelten, und er verachtete die, die solches vorgaben. Das war alles erst Vorbereitung. Es war wie Üben. Es geht ja auch niemand her und behauptet, er habe komponiert, wenn er lediglich die Tonleiter hinauf und hinunter gespielt hat. Django Reinhardt hatte das Ziel erreicht. Der Zigeuner war seinen Weg gegangen, und es war ein neuer Weg gewesen. Der Zigeuner wußte wie er: der Dschungel mußte neu gerodet werden, damit Ihre Majestät, das Schöne Lied, auf unzertretenem, frisch duftendem Boden Einzug halten konnte. Als mein Vater Attila sah – fünf Jahre jünger als er! –, Zigarette im Mundwinkel, mit offenem Hemd ohne Sakko, wie er mit lockerer Hand und entspannter Miene zu Baß, Klavier und Schlagzeug die alten Standards trällerte, da dachte er: Der ist ebenfalls am Ziel! Und er dachte: Ich werde das Ziel nie erreichen! Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit griffen nach ihm, und eine surreale Angst vor den Männerrücken und Männerhüten, auf die er blickte, stieg in ihm auf, als würden die sich gleich zu einem gesichtslosen Tribunal formieren und ihn, Georg Lukasser, der Hochstapelei anklagen, des Diebstahls: Du hast dir unter Vorspiegelung von Talent unsere Gunst geklaut! – Und als er so in der Ecke der Bar neben der Tür zu den Toiletten lehnte und die Fingernägel seiner Griffhand abkaute, sah er Carl im Publikum sitzen. Der war ja nicht zu übersehen, überragte alle, sein Haarschopf leuchtete wie Stroh in der Sonne. Da brach er zusammen. Ließ sich voll laufen. Soff sich nieder. Kam eine Woche nicht mehr aus seinem Rausch heraus.
    Carl suchte ihn. Er wußte ja nicht, wo er wohnte. Niemand im Club wußte es. Er wandte sich an die amerikanische Besatzungsbehörde, die konnte ihm schließlich die Adresse nennen: 17. Bezirk, Hernals, Zeilergasse 7/ 3/ 17.
    Carl: »Ich mußte deinem Vater versprechen, und ich habe ihm versprochen, erstens: daß ich mir nie wieder ein Konzert mit Attila Zoller ansehen werde; zweitens: daß ich, sollte Attila Zoller je eine Schallplatte aufnehmen, mir diese nicht kaufen werde; drittens: daß ich mit Attila Zoller nie ein persönliches Wort sprechen werde; viertens: daß ich Attila Zoller in Gegenwart anderer nie loben werde. Das habe ich deinem Vater versprochen. Und
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