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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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hatte sagen wollen, zog sie sie wieder an. Meine zukünftige Mutter habe mit bewundernswertem Instinkt erkannt, daß mein zukünftiger Vater jemanden nötig hatte, der ihn führte.
    Diese Geschichte gehörte zum goldenen Sagenschatz unserer Familie. Immer wieder, wenn wir alle zusammen waren – Carl, Margarida, meine Mutter, mein Vater, ich – Weihnachten zum Beispiel – bis zum meinem vierzehnten Lebensjahr feierten wir jede Weihnachten gemeinsam, entweder in der Penzingerstraße oder am Rudolfsplatz, öfter am Rudolfsplatz, weil es dort geräumiger war –, immer wieder erzählte Carl von seiner, wie er versicherte, einzigen Kuppelei seines Lebens. »Ich kann die Gefühle dieses äußerst komplizierten jungen Mannes nicht beeinflussen«, habe er meiner Mutter geantwortet – was, zu jeder anderen Person gesagt, eine Platitüde gewesen wäre, nicht aber vor ihr, denn genau das erwartete sie sich ja von ihm: daß er diesen komplizierten Mann auf sie ausrichte wie einen kleinen Marschsoldaten aus Blech –, »aber ich will gern ein Zusammentreffen mit ihm arrangieren«.
    »Danke«, sagte sie.
    »Bitte«, sagte er.
    Kein Lächeln. Aber ein Händedruck. Ein Handschlag. Eine Art Vertrag. Ein Vorvertrag vor dem Ehevertrag. Nein, so etwas habe er noch nicht erlebt!
    Zehn Minuten später kam sie noch einmal an seinen Tisch, und sie besprachen die Modalitäten, Carl inzwischen ebenso sachlich wie sie. Ort: Der Strohkoffer im Keller der Loosbar, Kärntner Durchgang 10. Zeit: Abends nach 22 Uhr. Carl sagte, er werde dafür sorgen, daß an dem Tisch rechts vor der Bühne ein Sessel für sie reserviert sei. Was für eine Garderobe vorgeschrieben sei, fragte sie. Keine, sagte er. »Danke«, sagte sie. »Keine Ursache«, sagte er. Und noch einmal Handschlag.
    Am Abend war meine Mutter im Strohkoffer, und nach dem ersten Auftritt meines Vaters tat Carl so, als bemerkte er sie im Publikum, rechts bei der Bühne.
    Er sagte: »Georg, sehen Sie dort hinüber, wissen Sie, wer die Frau ist?«
    »Sie kommt mir irgendwie bekannt vor«, brummte mein Vater, »aber ich weiß es nicht.«
    »Gefällt sie Ihnen?«
    Und mein Vater: »Gefällt sie Ihnen?«
    Es verschaffte Carl einige Genugtuung, daß er die Abfolge dieses kleinen Dialogs bis in den Tonfall hinein vorausberechnet hatte. Was kein Kunststück war. Mein Vater fragte ihn bei ziemlich allem, was nicht mit Musik zu tun hatte, erst um seine Meinung, bevor er seine eigene abgab.
    »O ja!« sagte Carl, »sie gefällt mir, sie gefällt mir sogar außerordentlich!«
    Er winkte meiner Mutter zu – wie sie es beide besprochen hatten –, sie kam an ihren Tisch – wie sie es beide besprochen hatten –, und Carl schlich sich nach einer Weile davon. Alles, wie sie es besprochen hatten. Er hatte zuerst vorgeschlagen, daß er zusammen mit meinem Vater zu ihr an den Tisch komme, das hatte sie abgelehnt – zu unsicher; könnte ja sein, daß der komplizierte junge Mann das nicht wolle, und dann würde es kein gutes Bild abgeben, wenn sie zu ihnen käme. Sie hatte an alles gedacht. Sie hatte alles geplant.
    Am nächsten Tag frühstückte Carl wieder im Imperial. Er war neugierig. Als er das Café betrat, kam ihm meine Mutter eilig entgegen, weißes Häubchen auf dem Haar, weißes Schürzchen über dem dunkelblauen Rock, graue Halbmonde unter den Augen. Es regnete, und an seinem Trenchcoat und seinem Hut rann das Wasser herunter und auf das Parkett. »Ich bringe Ihren Mantel in die Garderobe, Herr Professor«, sagte sie laut, so daß es der Oberkellner hören konnte, und leise fügte sie hinzu: »Folgen Sie mir!« In der Garderobe, akustisch durch die Mäntel abgeschirmt, sagte sie, sie wünsche ihn zu sprechen, ob er am Abend um sechs im Café Museum auf sie warten wolle. Anschließend servierte sie ihm das Frühstück – ohne ein Wort, ohne einen Blick und, wie Carl meinte, in einer Art Gekränktheit, für die er aber nicht den geringsten Grund sah.
    Sie war pünktlich auf den Schlag, blieb aber im Windfang vom Museum stehen und winkte ihn zu sich.
    »Gehen wir spazieren«, sagte sie.
    Es regnete immer noch, er hatte einen breiten Schirm, sie hängte sich bei ihm ein, und sie stapften durch den Stadtpark und gingen weiter zum Donaukanal und unten am Wasser entlang stromaufwärts. Sie trug Überschuhe aus Gummi, auf ihre rechte Schulter tropfte das Wasser vom Schirm, dafür war seine linke Schulter naß; es störte sie beide nicht. Sie berichtete. Sie sei bis zum Ende geblieben. Georg habe auf
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