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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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sein Leben zu schreiben. Korrigierte sich gleich – als hätte er nicht jedes Wort im vorhinein abgewogen und geprüft: »Nicht über . Und auch nicht etwas . Daß du mein Leben nacherzählst . Das meine ich.«
    Also eine Beichte. Ich gebe zu, das war mein erster Gedanke. Der zweite war: Er kann es nicht ernst meinen. Wir sahen uns an, und was ich erwartete, fand ich in seinem Blick: den Zweifel, der sich sogleich bei ihm meldete, ob ich wirklich der Richtige sei; und fand nicht: den Zweifel, ob das ganze Unternehmen richtig sei.
    »Bevor du mir antwortest«, unterbrach er meine Gedanken, »möchte ich etwas klären. Es wird Geld zwischen uns keine Rolle spielen. Wenn du willst, daß ich dir etwas für diese Arbeit bezahle, sag es mir gleich. Ich sage dir gleich, ich würde es nicht verstehen. In diesem Falle bitte ich dich, meine Anfrage zu vergessen. Solltest du aber mit meinem Vorschlag einverstanden sein, werde ich in einem Schriftstück beim Notar hinterlegen, daß alle Einkünfte, die aus einer eventuellen Veröffentlichung meines Lebens erwachsen, ausschließlich dir zustehen.«
    »Wieviel Zeit gibst du mir?«
    »Wenn du pissen mußt, piß an die Fichte. So viel Zeit gebe ich dir.«
    Ich hatte bereits über ihn geschrieben! Zwei kurze Erzählungen von knapp zehn Seiten jede. In einer der beiden habe ich ziemlich getreu jene Geschichte erzählt, als Carl Ende der dreißiger Jahre in London von einem Offizier der Royal Air Force als Agent angeworben worden war, damit er über seine deutschen Mathematiker- und Physikerfreunde herauskriege, wie weit die Nazis in der Uranforschung seien. Die Pointe der Geschichte – in Wirklichkeit und in meiner Erzählung –: Carl (in meiner Geschichte heißt er Phillip) fragt den Offizier, wieviel Zeit er ihm gebe, um sich zu entscheiden; der Offizier antwortet: »Bis ich mein Wasser abgeschlagen habe.«
    »Ich würde niemals Geld von dir nehmen«, sagte ich.
    »Das weiß ich«, antwortete er, »aber versetze dich bitte in meine Lage. Wäre es nicht sehr arrogant von mir, dieses Thema einfach nicht anzuschneiden?«
    In der anderen Erzählung, der älteren, kommt ein Biologe vor, der deutlich die Züge von Carl Jacob Candoris trägt. Bevor ich sie damals veröffentlichte, schickte ich sie meiner Mutter, ohne Kommentar. Sie schrieb mir zurück, schon nach dem ersten Absatz habe sie gewußt, daß es sich bei diesem frostigen Wissenschaftler um Carl handle, und rügte, ich sei ungerecht gegen ihn – was mich in zweifacher Hinsicht verwirrte: erstens war immer sie es gewesen, die Carl ungerecht beurteilt hatte, ihm abweisend und mißtrauisch begegnet war – diese Meinung teilte ich mit meinem Vater –; zweitens konnte ich in dem Charakter des Biologen nichts Kaltes finden; Spitzfindiges ja, daß er vielleicht zu analytisch an seine und die Sache der anderen heranging, aber kalt im Sinne von herzlos, nein. Wie alle meine Bücher habe ich Carl auch den Band geschickt, in dem die Geschichte abgedruckt war. Er hatte mir nicht darauf geantwortet. Erst im Laufe meines letzten Besuchs, wenige Wochen vor seinem Tod, gestand er mir, die Geschichte habe ihn damals gekränkt (was mir eine weitere Bestätigung war, daß meine Mutter ihn besser gekannt hat, als ich es je für möglich hielt, nämlich besser als ich und mein Vater, ja vielleicht sogar besser als Margarida).
    »Ich will es versuchen«, sagte ich.
    »Wo fangen wir an?« fragte er.
    »Am Anfang natürlich«, sagte ich.
2
    Carl war mein Pate, das heißt, er war mein Taufpate nach katholischem Ritus, aber er war viel mehr: Er war mein Schutzengel. Dabei kann ich nicht einmal für mich in Anspruch nehmen, im Kernschatten seiner Flügel gestanden zu haben; denn dieser Platz war ausschließlich für meinen Vater reserviert gewesen. Meine Mutter und ich, die wir uns an meinen Vater klammerten, damit er nicht umstürzte, hatten lediglich die Ränder des Schattens bezogen. Ob der Schutzengel das beabsichtigte? Oder hat er es bloß in Kauf genommen? Die Lukassers – Agnes, Georg, Sebastian – riefen nach ihm, und er verließ sein Institut in Innsbruck, um sich ihr Gejammer und Geschrei, ihr Herumgedruckse, ihre Empörungen, Ressentiments, Proteste, ihre Neid- und Mißgunstanfälle, ihre Aggressionen und Geldsorgen, ihren Weltschmerz und ihre Frustrationen anzuhören. Für uns war das Leben eine andauernde Aufeinanderfolge von Problemen; er bot die Lösungen an. Durften wir darauf vertrauen, daß er sich nicht von uns abwandte? Es sei
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