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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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Also schickten sie ihre Kinder fort. Zuerst meinen ältesten Bruder. Er war elf, als er auf das Internat einer Kadettenschule kam, die aus wilden und ungestümen Jungen tapfere Soldaten machen sollte.
    Mein ältester Bruder hatte anfangs nichts dagegen. Er liebte Uniformen und ging manchmal sogar mit seinem Pioniertuch schlafen. Also zog er stolz die Uniform an, in der er so erwachsen aussah, fuhr in die andere Stadt und hörte zu spät, wie das Anstaltstor schwer ins Schloss fiel.
    Bald schon schmerzten seine Glieder vom täglichen Drill und sein Herz vom Heimweh, und er bat seinen Vater, ihn wieder nach Hause zu holen.
    »Ich möchte kein Kadett mehr sein.«
    »Was willst du dann?«
    »Ich möchte Schriftsteller werden.«
    »Auch ein Schriftsteller muss lernen und diszipliniert sein.«
    »Dazu muss ich aber nicht hierbleiben!«
    »Die größten sozialistischen Schriftsteller sind durch die harten Schulen des Lebens gegangen und haben gelernt.«
    »Ich will hier weg. Ich halte es nicht mehr aus.«
    »Reiß dich zusammen!«
    Mein Bruder riss sich zusammen und schrieb. Er baute sich mit Worten eine Welt, in der er leben konnte, und erfand Leute, mit denen er leben wollte. Es war seine einzige Chance. Nach vier Jahren wurde die Kadettenanstalt geschlossen. Er war frei. Und schrieb weiter. Und wurde ein Schriftsteller. Ohne Disziplin.

Drei
    A n meinem sechsten Geburtstag versprach mir mein ältester Bruder, er würde mich heiraten, wenn ich achtzehn sei. Er trug seine schwere Lederjacke, die tief und warm knarzte, als er mich auf den Arm nahm. Ich wertete dieses vertraute Geräusch als Indiz dafür, dass er es ernst meinte, und glaubte ihm. Mein blöder kleiner Bruder erklärte mir noch am selben Tag, dass ich das vergessen könne, weil Brüder niemals ihre eigenen Schwestern heiraten dürften. Und dass mein ältester Bruder überhaupt ein Idiot sei, wenn er so eine Heulsuse und alte Petze wie mich nehme. Darauf schnappte ich mir den dicken Band »Chinesische Volksmärchen«, den mir meine Eltern zum Geburtstag geschenkt hatten, und zog ihm damit eins über, worauf er mir eine knallte. Ich rannte zu meiner Mutter, petzte, mein Bruder bekam eine Woche Stubenarrest.
     
    Zu meinem siebten Geburtstag erschien mein ältester Bruder nicht. Ich erfuhr erst später, dass genau an diesem Tag sein Sohn geboren worden war. Die Mutter war eine schöne Sängerin mit kurzem Haar und großen dunklen Augen. Sie kam mit dem Baby vorbei, wiegte es im Arm und sang ihm ein Lied vor: »Benjamin, ich hab nichts anzuziehn. Mein letztes Kleid ist hin. Ich bin so arm.« Sie sang so schön – ich glaubte ihr und nahm meinem ältesten Bruder nicht mehr übel, dass er mich wohl nie heiraten würde. Allerdings nahm ich ihm übel, dass er sich offenbar nicht genug um sie kümmerte und sie deshalb nur ein einziges Kleid besaß. Ich konnte ihn nicht zur Rede stellen, weil er nicht kam. Sehr lange nicht.
    Den Grund dafür erfuhr ich ausgerechnet von einem Jungen aus meiner Parallelklasse, den niemand leiden konnte. Er hieß Uwe und war ein elender Streber, der keine Gelegenheit ausließ, sich bei den Lehrern anzubiedern und andere zu verpfeifen: »Die Jungs sind mit den Mädchen im Schulgarten, und sie zeigen sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile!« Ich hasste ihn. Und ich hasste ihn auch, weil er widerliches fettiges Haar hatte und seine Popel aß. Zu allem Überfluss wohnte Uwe auch noch in unserem Nebenhaus, und so passierte es hin und wieder, dass ich ihn auf dem Weg zur Schule am Hals hatte. So auch am ersten Tag nach den Sommerferien. Ich ging gerade an seinem Hauseingang vorbei, als er herauskam. Ich lief schneller, doch er holte mich ein.
    »Warte doch mal!« Ich dachte nicht daran und lief schneller, doch er hielt mit mir Schritt.
    »Stimmt das, was mein Vati sagt?«, keuchte er.
    »Was denn?«, fragte ich und legte noch einen Zahn zu.
    »Dein Bruder sitzt im Kittchen!«
    Das war das Dümmste, was ich jemals gehört hatte. Und dass so ein Mist aus dem Mund dieses Idioten kam, wunderte mich nicht im Geringsten.
    »So ein Quatsch!«
    »Doch! Mein Vati hat das gesagt! Dein Bruder ist ein Landesverräter!«
    Das Wort Landesverräter schrie er fast, und sein feistes Gesicht war inzwischen schweißnass und rot. Ob vor Anstrengung, weil er neben mir jetzt fast rennen musste, oder weil er wegen seiner Mitteilung so aufgeregt war, konnte ich nicht sagen. Und es war mir auch egal.
    »Lass mich in Ruhe!«, herrschte ich ihn an und lief weg. Er holte
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