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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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seine Sprache war hölzern.
     
    Mein Vater fehlte mir nicht. Ich genoss die Wochenenden ohne Streit und Türenknallen. Mein ältester Bruder kam wieder öfter nach Hause und brachte seine neue Freundin mit. Mit ihr hatte er die Flugblätter verteilt, und auch sie hatte im Gefängnis gesessen. Sie ging mit mir spazieren und erzählte mir Witze wie einem Erwachsenen, dafür liebte ich sie.
    Meine Mutter schien die Abwesenheit meines Vaters zu genießen. Manchmal ging sie abends weg und kam erst spät in der Nacht wieder. Sie räumte das Wohnzimmer um, kaufte neue Gardinen und hielt sich noch seltener als sonst in dem Raum der Wohnung auf, den sie ohnehin am meisten hasste: der Küche. Stattdessen ging sie mit meinem jüngsten Bruder und mir ins Restaurant, und wir konnten uns bestellen, was wir wollten.
    Alle zwei Monate kam mein Vater für ein Wochenende nach Hause und brachte uns russisches Konfekt mit. Auch wenn er mir nicht gefehlt hatte, freute ich mich, wenn er kam. Allerdings fürchtete ich auch immer den Tag seiner Ankunft. Mein Vater war alles andere als begeistert vom neuen Aktionismus und der Großzügigkeit meiner Mutter, und es gab Krach. Doch meine Eltern waren klug genug, den Ärger nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Mein Vater gab sich nachsichtig, meine Mutter einsichtig – nach einer Stunde hatten sich die Wolken verzogen, meine Mutter band sich die Schürze um und ging in die Küche.
    Mein Vater nutzte diese Wochenenden, um viel Zeit mit meinem jüngsten Bruder und mir zu verbringen. Zu viel Zeit, und einmal sogar die falsche Zeit am falschen Ort, nämlich auf dem Spielplatz vor unserem Haus.
    Mein jüngster Bruder war zwölf und besetzte mit seinen Kumpels an den Wochenenden immer die Klettergiraffe, die dadurch zur gesperrten Zone für alle anderen Kinder wurde. So auch an diesem verhängnisvollen Nachmittag. Neben der Klettergiraffe gab es ein Reck, an dem meine Freundinnen und ich herumturnten, als mein Vater angeschlendert kam. Er rauchte und sah uns eine Weile zu. »Das haben wir früher auch gemacht«, sagte er. »Ich will doch mal sehen, ob ich das noch kann.«
    Mein Vater war sechsundvierzig Jahre alt und wog etwa fünfundachtzig Kilo, was für seine eher durchschnittliche Körpergröße eindeutig zu viel war. Meine Eltern hatten sich mit dem zunehmend behäbiger werdenden Sozialismus einen gewissen Wohlstandsspeck zugelegt. Er trat seine Zigarette aus, spuckte in die Hände, hängte sich an die Stange und begann, Schwung zu holen. Das jedoch erwies sich als schwieriger, als er erwartet hatte. Begleitet von einem schweren Keuchen, gelang es ihm irgendwann, seine Beine über die Stange zu werfen. Das Gelächter und die Gespräche auf dem Spielplatz waren inzwischen verstummt. Alle Kinder starrten herüber zu meinem dicken, jetzt kopfüber am Reck hängenden Vater. Ich hatte Angst und schaute hilfesuchend zu meinem Bruder, der gelangweilt die Schultern hob.
    »Ich konnte sogar mal einen richtigen Abgang«, presste mein Vater mit rotem Kopf hervor und fing wieder bedenklich an zu schwingen. Ich hatte Angst. Ich weiß nicht, wovor ich mich mehr fürchtete: dass meinem Vater etwas zustoßen könnte oder dass er sich zum Gespött der Kinder auf dem Spielplatz machte. Wenige Sekunden später spielte das keine Rolle mehr. Er hatte sehr viel Schwung geholt, und mit einem tiefen Gottvertrauen, das nur jemand wie er haben konnte, löste er sich von der Stange. Doch die Gesetze der Physik ließen sich mit Gottvertrauen nicht außer Kraft setzen. Der schwere Körper schaffte die 180 -Grad-Drehung in der Luft nicht, und mein Vater landete auf dem Rücken im Sand.
    Die Jungen auf der Giraffe prusteten hinter vorgehaltenen Händen, nur das Gesicht meines Bruders war leichenblass geworden, und sein Mund stand offen. Mein Vater lag auf dem Rücken und rang nach Luft. Ich fing an zu weinen. Ich weinte aus Angst und Scham. Ich wollte zu ihm laufen, doch ich war wie gelähmt. Stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte er sich irgendwann auf, rieb sich den Sand von der Hose und schleppte sich schweigend davon. Ein Bild des Jammers. Demütigend und mitleiderregend zugleich.
    Mein Vater thematisierte diesen Vorfall nicht mehr, und mein Bruder kommentierte ihn am Abend im Bett nur mit den Worten: »Der Alte ist ein Idiot!«
     
    Fast ein Jahr nachdem mein Vater zweimal so unfreiwillig den freien Fall erlebt hatte, wurde er erneut von einem seiner Söhne enttäuscht. Diesmal war es mein mittlerer
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