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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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mich nicht mehr ein. Vermutlich wollte er das auch gar nicht mehr.
    »Landesverräter!« – für den Rest des Schulwegs tobte das Wort in meinem Kopf. Und es hörte auch nicht auf, als ich schon längst mit den anderen auf dem Schulhof stand, wo der Direktor beim obligatorischen Fahnenappell das Schuljahr eröffnete. »Landesverräter!«, rumorte es in meinem Schädel, als unsere Lehrerin in der ersten Stunde die Schulbücher verteilte und den Stundenplan an die Tafel schrieb. Eine quälend lange Stunde.
    In der Pause suchte ich meinen jüngsten Bruder, der auch in meine Schule ging. Ich fand ihn im Zeichensaal, wo er mit seinen Freunden in der Ecke stand und die Ferien auswertete. Als er mich sah, verdrehte er die Augen: »Was willst du denn hier?« Ich zog ihn zur Seite und erzählte ihm, was Uwe gesagt hatte.
    »Ja, es stimmt. Er ist im Gefängnis. Aber er ist kein Verräter. Das klärt sich alles auf. Und jetzt hau ab in deine Klasse.«
    Ich war erleichtert. Der Verräter war weg. Es würde sich aufklären. Ich ging zurück. Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter.
    »Dein Bruder hat einen schlimmen Fehler gemacht«, sagte sie. »Er hat Flugblätter verteilt und unser Land kritisiert. Das ist verboten.« Ich verstand gar nichts.
    »Ist er ein Verbrecher?«
    »Nein, aber was er getan hat, ist gegen das Gesetz. Deshalb ist er jetzt im Gefängnis.«
    Mein Vater kam mit düsterer Miene von der Arbeit nach Hause, und ich wagte nicht, ihn anzusprechen.
     
    Es war 1968 . Die Welt war aus den Fugen. Die Söhne rebellierten gegen ihre Väter. Auch in dem Teil der Welt, wo es einmal die Vision vom schönen weiten blauen Himmel mit der aufgehenden Sonne gegeben hatte. Hier war der Blick der Väter starr geworden. Sie hatten ihre Träume mit der Zeit gegen Parteiprogramme eingetauscht. Sie hatten aufgehört, ihrem eigenen Volk zu trauen und die Türen und Fenster vernagelt. Die Luft war mit der Zeit immer dicker und muffiger geworden.
    Im Land nebenan passierte etwas. Dort machten sie plötzlich die Fenster auf und ließen frische Luft herein. Doch die Männer, die ihre Träume vergessen hatten, wollten das nicht dulden und schickten Panzer in das Land. Die Fenster wurden wieder verriegelt. Aus der Traum. Vorbei.
    Mein ältester Bruder fand das schlimm, traf sich mit seinen Freunden und schrieb Flugblätter: »Hände weg vom Roten Prag.« Sie hatten nichts gegen den Sozialismus. Sie wollten ihn, aber nicht so.
    Nachts verteilten sie die Flugblätter in Berlin und verabredeten, sich gegenseitig nicht zu verraten, wenn einer von ihnen verhaftet würde. Sie trennten sich und warteten auf das Unvermeidliche. Einige von ihnen wurden noch in dieser Nacht festgenommen. Mein Bruder versteckte sich, wartete, ging zwei Tage später nach Hause und erzählte meinem Vater, was geschehen war. Doch der wusste schon Bescheid.
    »Du musst dich stellen.«
    »Ich weiß, aber das kann ich nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Weil du es bist, der mir das sagt.«
    »Dann muss ich dich anzeigen.«
    Mein Bruder wurde verhaftet und wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Dort schrieb er in sein Tagebuch: »In der Einzelhaft muss man sechzehn Stunden am Tag nachdenken, wenn man keine Bücher hat und wenig Gedichte und Lieder auswendig kennt. Man muss nachdenken. Zuerst habe ich über Leute nachgedacht, aber das reichte nur für zwei Tage. Dann habe ich über den Grund nachgedacht, für den ich im Gefängnis war. Märtyrer, Kämpfer, Beleidigter – diese Rollen haben für zwei Tage Denkstoff gegeben. Dann musste ich über mich nachdenken, ich konnte nichts anderes tun auf dem Hocker. Und ich habe gemerkt, dass ich es zum ersten Mal tue.«
    Mein Vater ging ihn nicht besuchen, meine Mutter tat es heimlich. Nach zweieinhalb Monaten ließ man meinen Bruder auf Bewährung frei und schickte ihn als Fräser in eine Fabrik. Vorher hatte man ihn schon von der Schule geworfen, an der er Film studierte.
    Auch mein Vater musste Buße tun für seinen missratenen Sohn. Seine Partei schubste ihn von der Karriereleiter und schickte ihn für ein Jahr auf eine Schule nach Moskau, wo er gefälligst noch einmal die Grundlagen des Marxismus-Leninismus studieren und aus seinen Fehlern lernen sollte. Aus dem stellvertretenden Kulturminister wurde über Nacht ein ungezogener Schüler, den man nachsitzen ließ. Er schrieb uns lange Briefe und erzählte von der Weite des Himmels und der Herzlichkeit der Menschen. Doch
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