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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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Bruder, sein zweitgeborener Sohn.
    Er wäre nach der Geburt beinahe gestorben, so winzig klein und schwach war er. Seine Augen lagen so blank und groß in ihren Höhlen, dass sie fast herausgefallen wären. Dieser Bruder war unser aller Lieblingsbruder. Er war lustig und konnte auf den Händen gehen.
    Wenn wir im Sommer an der Ostsee waren, wo Leute aus allen Ecken des Landes Urlaub machten, brauchte er keine fünf Minuten, um ihren Dialekt zu imitieren. Waren wir am Strand, lief er den Mädchen hinterher, als sei er ihr Schatten. Er ahmte ihren Gang und ihre Bewegungen nach und brachte sie und uns zum Lachen. Leute zum Lachen bringen – das war sein großes Talent, und das wollte er machen, wenn er erwachsen war. Doch vorher schickten meine Eltern ihn auf ein Internat. Sechs Jahre lang. Für meinen Vater, der selbst fast immer in Internaten und Heimen gelebt hatte, war das völlig selbstverständlich. Meine Mutter widersprach nicht. Das tat sie ohnehin immer seltener.
    »Ich hab keine Lust mehr«, sagte mein mittlerer Bruder irgendwann, ging ohne Abitur von der Schule ab und verließ das Internat. Als er nach Hause kam, hielt ihm mein Vater einen langen Vortrag darüber, dass es im Kommunismus nicht darum gehe, ob jemand gerade Lust habe oder nicht. Es gehe um Verantwortung und Opferbereitschaft. Und er solle in sein Zimmer gehen und darüber nachdenken. Mein Bruder ging aber nicht in sein Zimmer, sondern kam in unseres und spielte für meinen kleinen Bruder und mich die Szene nach. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, lief er mit gesenktem Blick hin und her und sprach in jenem leisen und bedrohlichen Ton, den wir von unserem Vater nur zu gut kannten und den wir fürchteten. Wir verstanden zwar nicht, worum es ging, aber wir lachten uns kaputt.
    »Ich habe keine Lust mehr«, sagte mein mittlerer Bruder nach einem Monat bei der Armee und führte die Befehle nicht mehr aus. Man brachte ihn vor den Militärstaatsanwalt und verhörte ihn. »Ich habe einfach keine Lust mehr. Es gibt mir nichts«, sagte er. Man verurteilte ihn zu anderthalb Jahren auf Bewährung und versetzte ihn dafür zu den Bausoldaten in eine berüchtigte Kaserne, in der alle Soldaten landeten, die keine Lust mehr hatten.
    Er schrieb seinem großen Bruder lange Briefe. Darin erzählte er ihm von seinem Wunsch, Schauspieler zu werden. Er schwärmte von Jean-Paul Belmondo, der im Film »Außer Atem« von einem hübschen amerikanischen Zeitungsmädchen verraten wird. Er schrieb von der süßen kleinen Protokollantin des Untersuchungsrichters, in die er sich verknallt hatte. Und er philosophierte darüber, dass man sich ständig ändern und überwinden müsse, damit das Leben nicht ende wie eine sich abkühlende Tasse Kaffee. »Sich freihändig zu bewegen ist nicht einfach, das sehe ich an Dir«, schrieb er. »Aber es ist das Schönste im ganzen Leben. Deswegen habe ich Dich lieb wie keinen anderen Menschen. Du bist für mich irgendwie ein roter Punkt in diesem scheiß Irrgarten.«
    Mein mittlerer Bruder wurde Schauspieler und verliebte sich in eine Balletttänzerin aus Amerika. Sie hatte viele dunkle Locken und ein warmes schönes Gesicht. Er wollte, dass sie bei ihm blieb. Sie wollte, dass er mit ihr kam. Er blieb, sie ging. Er trank. Immer zu viel. Und danach noch mehr. Er war zornig und hatte Sehnsucht und lachte und trank.
     
    »Wir werden umziehen«, sagte mein Vater, nachdem er aus Moskau zurückgekehrt war. »Die Partei schickt mich in eine andere Stadt, wo man mich dringender braucht als hier«, erklärte er uns. Die Wahrheit aber war: Sie brauchten ihn überhaupt nicht, sie bestraften ihn. Sie schoben ihn ab in die Provinz und setzten ihn auf den zweitklassigen Posten eines Zweiten Sekretärs der Partei in dieser Stadt, die dreihundert Kilometer weit weg war von hier. Karl-Marx-Stadt. Das Ende der Welt. Ich war zehn Jahre alt, und bevor ich auch nur einen Fuß in diese fremde Stadt gesetzt hatte, hasste ich sie schon. Am Sonntag vor unserem Umzug saß zum letzten Mal die ganze Familie am Tisch.
    »Warum lässt du dir das gefallen, Vater?«, fragte mein ältester Bruder.
    »Das fragst du mich? Ausgerechnet du?«
    »Ja, das frage ich dich.«
    Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Ich wusste, dass diese Unterhaltung kein gutes Ende nehmen würde. Mein Vater schaute streng, und mit der gefürchteten leisen und bedrohlichen Stimme sprach er:
    »Du hast kein Recht, mich das zu fragen. Du weißt genau, dass das alles deinetwegen
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