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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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passiert.«
    Ich schaute zu meiner Mutter, die meinen ältesten Bruder mit einem Blick anflehte, er möge diese Unterhaltung sofort beenden. Er tat es nicht.
    »Ich weiß, dass das meinetwegen passiert. Das musst du mir nicht erklären. Aber warum lässt du dir das gefallen?«
    »Sei still! Ich werde mit dir darüber nicht diskutieren. Du weißt ganz genau, was ich über deine konterrevolutionäre Haltung denke.«
    Ich sah zu meinem mittleren Bruder, der mit bestechender Genauigkeit den verbissenen Gesichtsausdruck meines Vater imitierte und lautlos dessen Worte mitsprach. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Mein Blick wanderte zu meinem kleinen Bruder, der die Augen verdrehte und seinen »Es gibt nichts Langweiligeres auf der Welt als das Gequatsche des Alten«-Blick zur Schau stellen wollte, was ihm jedoch nicht so recht gelang.
    »Sie wollen, dass ich für dein Verhalten die Konsequenzen trage. Sie haben recht, ich habe bei deiner Erziehung versagt.« Mein Vater sah bei diesen Worten auf seinen Teller, als spräche er mit dem Schnitzel darauf.
    »Ha!«, rief plötzlich mein mittlerer Bruder. »Dann müssen sie dich doch eigentlich nach Sibirien schicken, bei meiner Erziehung hast du nämlich auch versagt.«
    »Hört sofort auf!« Meine Mutter schmiss das Besteck auf ihren Teller, und das Flehen in ihrem Gesicht war einem wütenden Blick gewichen. »Und du …« – sie meinte mich – »gehst auf der Stelle in dein Zimmer.«
    »Aber auf der Stelle«, äffte mein mittlerer Bruder ihren wienerischen Akzent nach. »Auf der Stelle gehen wird in dieser feinen Familie nämlich großgeschrieben.« Ich war schon an der Tür, als ich den Knall der Ohrfeige hörte, die meine Mutter ihm gab.
    Diesmal schmiss ich die Türen. Ich war wütend, unglücklich und unendlich einsam. In meinem Zimmer legte ich die Schallplatte »Peter und der Wolf« auf. Die hörte ich sonst nur, wenn jemand dabei war, weil ich mich vor dem Wolf fürchtete. Doch jetzt nicht. Ich drehte so laut, dass ich die später knallenden Türen nicht hören konnte.
     
    Wir verließen Berlin im August. Es regnete ununterbrochen, und meine Mutter fluchte den ganzen Tag. Sie hatte keine Lust wegzugehen. Wenn sie schon dazu verurteilt war, in einem Land zu bleiben, das sie nicht leiden konnte, dann doch wenigstens in einer Stadt, die ihr gefiel. Außerdem hatte sie zum ersten Mal einen Job, der ihr ein bisschen Spaß machte. Sie arbeitete in einer kleinen Redaktion beim Fernsehen, in der sie einigermaßen in Ruhe gelassen wurde.
    In den Ferien nahm sie mich manchmal mit ins Büro, wo ich die meiste Zeit damit verbrachte, auf einer alten Schreibmaschine herumzuhämmern, die sie aus einem Schrank holte. Ich schnappte mir eine Zeitung und tippte sie ab. Wort für Wort, ohne den Sinn zu verstehen. Der interessierte mich auch nicht, ich tat es nur wegen dieses Geräusches – ein warmes, schönes, irgendwie kluges Geräusch. Dass ich es produzierte, gab mir ein erwachsenes Gefühl von Wichtigkeit. Musste meine Mutter telefonieren, unterbrach ich meine Arbeit und schaute nicht ohne Stolz auf das Blatt, das sich unter meinen Händen mit Text gefüllt hatte. Wenn sie eine Besprechung hatte, gab mir meine Mutter etwas Geld und schickte mich in die Kantine. »Aber du fährst nicht mit dem Paternoster, du nimmst die Treppe. Klar?« Ich nickte und hörte auf sie. Bis Frank kam. Frank war ein Jahr älter als ich und der Sohn einer Kollegin meiner Mutter. Er hatte unfassbar viele Sommersprossen und einen Topfschnitt. Aber er war ok.
    »Bist du schon mal mit dem Paternoster oben lang gefahren?«, fragte er mich einmal.
    »Nee, das ist doch verboten.«
    »Na und? Ich bin schon mal.«
    »Und?« In meiner Vorstellung legte sich die Paternosterkabine oben waagerecht, und man fuhr dann kopfüber wieder nach unten. Beängstigend.
    »Macht Spaß. Los komm!«
    Ich zögerte einen Augenblick, wollte aber vor diesem Jungen, den ich ziemlich gut fand, nicht als Feigling dastehen.
    »Na gut.«
    Wir sprangen in den Paternoster und fuhren. Mein Herz klopfte, und je mehr wir uns dem obersten Stockwerk näherten, desto schlimmer klopfte es und schien das bedrohliche Knirschen in der alten Mechanik des Aufzugs zu übertönen. Dann waren wir oben, und nachdem ich gerade noch das Schild »Weiterfahrt ungefährlich« entziffern konnte, wurde es dunkel und das Knirschen beängstigend laut. Ich hätte gern nach Franks Hand gegriffen, doch ich traute mich nicht.
    Es ging alles gut. Und Frank und
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