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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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Vater nickte. »Und für die Kleine: Schokolinsen!«, schrie sie, als sei ich begriffsstutzig oder taub. Ich hasste die Dicke. Und sie war immer da. Vielleicht war sie zu fett, um diesen Ort zu verlassen. Vielleicht war sie so fett wie der dicke Herr Bell, von dem mein ältester Bruder mir mal erzählt hatte.
    Der dicke Herr Bell war irgendwann so dick, dass er nicht mehr durch seine Wohnungstür passte. Er saß den ganzen Tag auf dem Teppich und wartete auf seine Nachbarin, die ihm etwas zu essen brachte. Der dicke Herr Bell wurde immer trauriger, weil er gar nicht mehr wusste, was in der Welt passierte. Doch irgendwann kam ihm eine Idee.
    Er bat seine Nachbarin, ihm einen langen Draht, dünnes Blech, einen Hammer und zwei Zangen zu besorgen. Jetzt hat er den Verstand verloren, dachte die Nachbarin. Doch sie brachte ihm, was er wollte. Und der dicke Herr Bell erfand das Telefon und wurde irgendwann wieder fröhlich, weil er Leute anrufen konnte, die ihm erzählten, was in der Welt passierte.
    Die dicke Frau im Tabakladen war nicht fröhlich. Sie war nur fett und laut. Auch als sie mich an diesem Sonntagnachmittag durch die Schlange erspähte und meine Pläne durchkreuzte. Sie stemmte ihre Oberschenkelarme in die Hüfte und schrie: »Na, was macht denn die kleine Motte hier?! Wo ist denn der Vati?!« Das Wort »Vati« erreichte nur noch durch den Hall der Bahnhofspassage mein Ohr, wo ich der Nachbarin aus dem vierten Stock in die Arme lief.
    »Was machst du denn hier so ganz allein?«
    »Ich bin getürmt«, erklärte ich.
    »Soso«, sagte sie, kaufte mir ein Eis und brachte mich nach Hause. Meine Mutter war kreidebleich, als sie die Tür öffnete. Sie bedankte sich kleinlaut bei der Nachbarin und zog mich in die Wohnung.
    »Was hast du dir dabei gedacht?«
    »Ich bin getürmt. Genau wie du!«
    »Unser Schwesterchen ist getürmt«, feixte mein mittlerer Bruder, der plötzlich hinter ihr stand. »Alle wollen es, und sie macht’s einfach.« Er war vierzehn, und ich sah ihn nur am Wochenende, wenn er aus dem Internat nach Hause kam.
    Meine Mutter fuhr herum. »Geh sofort in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!«, herrschte sie ihn an.
    »Wir sprechen uns noch«, äffte mein Bruder sie nach und verschwand in seinem Zimmer. Meine Mutter schimpfte mit mir, und ich musste ihr versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde.
    »Bilde dir bloß nichts drauf ein!«, sagte mein jüngster Bruder, als wir abends im Bett lagen. »Ich bin schon abgehauen, da lagst du noch als Quark im Schaufenster.«
    »Gar nicht.«
    »Du hast doch überhaupt keine Ahnung.«
    »Und du bist doof.«
    »Schnauze.«
    »Selber.«
    Meine Mutter kam herein.
    »Schluss jetzt«, sagte sie streng und zog die Vorhänge zu. Sie kam an unser Bett, küsste uns, und wir sagten unseren Gutenachtspruch auf, jeder immer ein Wort.
    Ab – jetzt – ist – Ruhe.
    Dann machte sie das Licht aus und ging.
     
    Wenn es nach meinem ältesten Bruder ging, war jenem spektakulären Fluchtversuch bereits ein anderer vorausgegangen. Damals war ich zehn Monate alt und er sechzehn Jahre. Wir bewohnten ein Haus am Stadtrand und verfügten sowohl über einen Hund namens Fred als auch über eine ältliche Haushälterin mit Überbiss: Agnes.
    Es war ein gewöhnlicher Vormittag im Sommer. Meine Eltern arbeiteten, meine beiden jüngeren Brüder waren im Kindergarten und in der Schule. Ich war mit meinem ältesten Bruder, Hund Fred und Agnes allein. Agnes rauchte in der Küche, mein Bruder war in seinem Zimmer, Fred lungerte im Garten herum, und ich spielte auf dem Wohnzimmerteppich.
    Ob aus Langeweile oder Neugier – unbeobachtet und mit nicht mehr als ein paar lässig um die Hüften geschwungenen Stoffwindeln kroch ich irgendwann aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße. Der Hund entdeckte mich, rannte mir hinterher, trug mich an den Windeln im Maul zurück und legte mich schweigend in den Flur, worauf ich in gellendes Geschrei ausbrach. Mein ältester Bruder stürzte aus seinem Zimmer, setzte mich ins Laufgitter, rief nach der nutzlos in der Küche rauchenden Agnes und knallte ihr eine. Agnes wurde noch am selben Tag gefeuert, und auch der Hund muss kurz darauf gestorben sein, denn ich kann mich beim besten Willen an kein Hundegesicht erinnern. Wir verließen das Haus am Stadtrand und zogen in eine Neubauwohnung am Alexanderplatz.
     
    Von da an ging ich in die Wochenkrippe – eine fabelhafte Einrichtung: Montagfrüh wurde man frisch gewindelt abgegeben und
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