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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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mehr half.
    Meine Mutter wollte nicht hier sein. Nicht in dieser tristen Feriensiedlung. Wenn wir spazieren gingen, schaute sie mit sehnsuchtsvollem Blick auf die schönen reetgedeckten Strandhäuser, die von Künstlern und Intellektuellen bewohnt wurden. Diese Leute lebten das Leben, das doch eigentlich ihr Leben hätte sein sollen. Das Leben einer Schauspielerin oder Sängerin. Ein leichtes, schönes, unbekümmertes Leben. So war es geplant. Davon hatte sie schon in London geträumt, als sie sich mit ihrer kleinen Theatertruppe Abend für Abend in eine Welt flüchtete, die mit dem grauen Leben im Exil nichts zu tun hatte. Theater spielen, um das Heimweh und die Fremdheit zu vergessen.
    Dort hatte sie meinen Vater kennengelernt. Er kam zu jeder Vorstellung, trug immer denselben Anzug und saß immer in der dritten Reihe. In diesem Teil der Geschichte waren sich beide einig. Doch während mein Vater behauptete, er habe meine Mutter gleich am ersten Abend angesprochen und zum Wein eingeladen, dauerte es in der Version meiner Mutter Wochen, bevor es dazu kam.
    Da stand er nach den Theatervorstellungen mit seinen Kumpels in der Ecke und schielte zu ihr hinüber. Schüchtern. Sie kannte ihn schon. Und sie kannte ihn anders. Bei den wöchentlichen Gemeinschaftsabenden der Emigranten stand er vorn und predigte das neue Deutschland, das sie alle nach dem Krieg aufbauen würden. Da war er nicht schüchtern. Er sprach mit fester Stimme und glaubte jedes Wort, das er sagte. Er war sehr überzeugend. Und er war schön mit seinem dunklen Haar, das ihm ins Gesicht fiel, wenn er zu leidenschaftlich gestikulierte. Er hatte Augen, die auch dann zu lächeln schienen, wenn er über ernste Dinge sprach. Und er sprach eigentlich immer über ernste Dinge. Meine Mutter verliebte sich in diesen Mann, der so anders war als die Jungs, die sie kannte. Er war genauso alt wie sie, gerade zwanzig. Doch er hatte die Ernsthaftigkeit eines Erwachsenen, der genau wusste, was er wollte.
    Wenn er da vorn stand, sprach er mit großer Leidenschaft von Dingen, die sie eigentlich nicht interessierten. Was hatte sie mit Deutschland zu schaffen? Sie kam aus Wien, die deutschen Nazis hatten sie gedemütigt und ihre Familie auseinandergerissen. Die Träume dieses Mannes da vorn gingen sie nichts an, doch sie fühlte sich zu ihm hingezogen, und irgendwann sprach sie ihn einfach an.
    »Hätte ich das nicht getan, wärst du jetzt nicht hier. Und ich auch nicht. Und das wäre vielleicht nicht das Schlechteste.« Sie schickte Scherzen wie diesem manchmal einen gespielten Seufzer hinterher und grinste. Ein Grinsen, das sofort die Dunkelheit aus ihren Worten zog. Das konnte sie gut.
     
    Mein Vater liebte meine Mutter. Er heiratete sie, und ein halbes Jahr später wurde mein ältester Bruder geboren. Aber noch mehr als seine kleine Familie liebte mein Vater seinen Glauben an das Himmelreich auf Erden, das er in dem Land errichten wollte, das ihn um seine Jugend gebracht hatte. Deutschland. Der Krieg war zu Ende. Im Osten war die Sonne aufgegangen. Mein Vater und seine Freunde machten diese Sonne zu ihrem Symbol. Glaube, Liebe, Hoffnung – das ging auch ohne Gott. Der Teufel sollte ihn holen. Und mein Vater sagte zu meiner Mutter:
    »Komm mit, wir gehen nach Deutschland.«
    »Was soll ich da, ich bin keine Deutsche.«
    »Wir sind Kommunisten.«
    »Ich komme aus Wien. Ich bin Jüdin. Ich geh nicht nach Deutschland.«
    »Ich werde gehen. Und wenn du nicht mitkommst, bleibst du hier allein mit deinem Sohn.«
    Sie weinte. Mein Vater ging nach Deutschland und ließ sie allein. Meine Mutter zog mit ihrem kleinen Sohn zu ihrer Schwester und ihrem Schwager. Sie antwortete nicht auf die langen Briefe, die ihr Mann aus Berlin schrieb und in denen er sie bat, doch zu kommen. Es sei so viel Hoffnung hier. Er schrieb ihr, wie schlecht es ihm gehe ohne sie und wie sehr er sie liebe. Ein Jahr ließ sie ihn warten. Ein Jahr litt sie. Dann folgte sie ihm mit ihrem Sohn.
    Sie folgte ihm überallhin: in seine neue Partei, in seine neuen Funktionen, in fremde Städte. Mit jedem Umzug ließ sie ein Stück ihres alten Traumes zurück wie ein überflüssiges Möbelstück. Sie lernte mit der Maschine zu schreiben und wurde Sekretärin, sie lernte Französisch und wurde Dolmetscherin, sie lernte Artikel zu verfassen und wurde Journalistin. Etwa alle fünf Jahre schenkte sie ihrem Mann ein Kind. Nach dem ersten noch drei Mal.
     
    Sie hatten viel Arbeit, wenig Geld und noch weniger Zeit.
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