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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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schäbigen Drecksarbeit verdonnerte: Er war Hausmeister, Tellerwäscher, Kloputzer. Ohne Bezahlung, versteht sich. Um sich ein paar Shilling zu verdienen, trat er in den Dienst des Bruders der Heimleiterin – eines Jesuitenpaters. Wenigstens sein Job als Messdiener erinnerte ihn ein bisschen an zu Hause, die Rituale waren vertraut. Doch er fühlte sich einsam. Der Kontakt zu seiner Mutter und seinem Stiefvater war gänzlich abgebrochen, und er hatte keine Freunde. Er fing an zu rauchen. Nachts, wenn alle schliefen, schlich er sich hinaus in den kleinen, schmalen Garten des Heims, drehte sich Zigaretten und versuchte, mit seinem Gott zu reden, aber der machte sich rar. Oder vielleicht ging ihm einfach nur der Gesprächsstoff aus. Also dachte mein Vater darüber nach, was es außer Gott sonst noch geben könnte im Leben. Den Traum, Priester zu werden, hatte er noch nicht aufgegeben. Sein Stiefvater – der kluge, belesene, weltgewandte Mann – hatte ihn jedoch gewarnt, bei aller Liebe zu Gott nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dieser Boden war gerade ziemlich fremd und hart. Doch er folgte dem Rat seines Stiefvaters und entschloss sich, eine Lehre zu beginnen. Werkzeugmacher. Er lernte: Werkzeuge zu machen, besser Englisch zu sprechen, erwachsener zu werden. Ungefähr ein Jahr lang. Bis der Krieg England erreichte.
    Mit der Gastfreundschaft der Briten war es von einem Tag zum anderen vorbei, und alle Deutschen, ob Juden oder Kommunisten, galten als feindliche Ausländer und mussten weg. Weit weg. Und so kamen mein Vater und sein Gott in ein Internierungslager in Kanada.
    »Die Schule meines Lebens«, erklärte mein Vater mit einer Stimme, die mich schaudern ließ, weil sie so ganz anders war als die, mit der er mir gerade seine Geschichte erzählt hatte. Sein eben noch so weicher, ferner Blick war der Miene gewichen, die ich nicht mochte: fest und streng und autoritär. »Die Schule meines Lebens.« Die Schule, in der die Bibel gegen das »Kommunistische Manifest« eingetauscht wurde und die »Genesis« gegen Darwins »Entstehung der Arten«.
    Die Geschichte, wie aus einem katholischen Juden ein Kommunist wurde, erzählte mein Vater am liebsten. Für mich war es die langweiligste Geschichte der Welt. Sie handelte von langen Gesprächen mit alten Kommunisten. Es war eine Geschichte ohne Abenteuer, gespickt mit Worten, die ich nicht verstand: Marxismus, Klassenkampf, Revolution, Mission der Arbeiterklasse. Ich schaltete auf Durchzug. Ich war gerade mal sieben und hatte ganz andere Sorgen: »Papa, ich muss mal!«
     
    Im Sommer fuhren wir auf die Insel Hiddensee und bezogen dort für vier Wochen einen Bungalow in einer Feriensiedlung für höhergestellte Parteifunktionäre. Meine Mutter bekam immer schlechte Laune, wenn wir dort ankamen.
    »Seht euch diese Baracken an! Fehlt bloß noch der Lagerkommandant!« Sie wusste genau, dass ihre Sticheleien meinen Vater verletzten. Genauso wie ihr Aktionismus, nachdem wir angekommen waren. Bevor sie nämlich die Koffer auspackte, stellte sie die komplette Einrichtung um. Das war ihre Art, gegen die Uniformierung des Urlaubs zu protestieren und Individualität zu demonstrieren. Viel Spielraum hatte sie allerdings nicht für ihre kleine Rebellion, da die Zimmer des Bungalows so winzig waren, dass man die Wände vermutlich um die Möbel herum gebaut hatte. So konnte sie das Inventar lediglich ein Mal in Uhrzeigerrichtung verschieben und das Geschirr im Küchenschrank anders einräumen.
    Begleitet wurde dieses sich Jahr für Jahr wiederholende Einzugsritual durch schlimme – mal englische, mal wienerische – Flüche, denen mein Vater sich unter dem Vorwand entzog, er werde im Dorf mal nach dem Rechten sehen, während meine Brüder und ich die Badesachen aus den Koffern wühlten und an den Strand flüchteten.
    Wenn wir ein paar Stunden später zurückkamen, saß mein Vater rauchend vor dem Bungalow, während meine Mutter erschöpft auf dem Sofa lag und die obligatorische Erklärung abgab, im nächsten Jahr würden sie keine zehn Pferde mehr in dieses elende Lager bringen. Meine Brüder stießen sich grinsend in die Seite, und mein Vater schüttelte mit vorwurfsvoller Miene den Kopf. Und ich? Ich war zu klein, um zu verstehen, dass sie es nicht so meinte. Und es sollte ein paar Jahre dauern, bis ich begriff, dass es dieser Sarkasmus war, der sie lange davor bewahrte, bitter oder depressiv zu werden. Schwarzer Humor als Überlebensstrategie – bis auch das nichts
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