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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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in Deutschland.“
    „Willkommen in Großbritannien! Oder zumindest auf achtzig Quadratmetern davon“, rief der Mann, der Zeitung gelesen hatte und sie nun zusammenfaltete. Sir Darren registrierte mit einer gewissen Erleichterung, dass es sich um den konservativen Daily Telegraph handelte, dieselbe Ausgabe, die auch er vor wenigen Stunden am Flughafen zu erwerben im Begriff gewesen war. Die Anwesenden stellten sich der Reihe nach vor – den Burschen, der das Kaminfeuer fixierte, hatte man mit einem Klaps auf den Rücken aus seiner Trance geweckt. Einmal zu sich gekommen, streckte er dem Neuankömmling freundlich die Hand entgegen. „Sagen Sie, spielen Sie Whist?“
    „Ich spiele ein wenig Bridge“, antwortete der Dozent nach kurzem Zögern. „Allerdings nicht besonders … effektiv, wenn man es so ausdrücken will.“
    „Darf ich das als Ja werten?“, grinste der junge Mann. Er trug einen sauberen Anzug und ein Lächeln, das die meisten Frauen bestimmt unwiderstehlich gefunden hätten. „Wir langweilen uns nämlich zu Tode. Ich meine“, er warf einen untröstlichen Blick in die Richtung des greisen Butlers, „natürlich langweilen wir uns mit Stil. Wir langweilen uns auf eine sehr behütete, gemütliche und ohne Zweifel standesgemäße Weise. Wir möchten mit unserer Langeweile niemandem zu nahe treten und verbinden damit keine politische Botschaft. Aber wir langweilen uns.“
    „Es tut mir aufrichtig leid, das hören zu müssen, Sir“, bemerkte der Butler.
    „Du solltest es mal mit Lesen versuchen“, schlug einer der Männer in mittlerem Alter vor.
    „Ich fühle mich zu jung, um mich hinter raschelndem Papier zu verstecken. Mich dürstet es noch nach dem Geruch des Abenteuers.“
    Die beiden Männer lachten.
    „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf“, mischte sich Sir Darren ein, um nicht als wortkarg und ungesellig dazustehen. „Auf den Seiten einer Zeitung oder eines Buches scheinen sich mir weitaus mehr Abenteuer finden zu lassen als in den Flammen eines Kaminfeuers.“
    „Meinen Sie, Sir? Mir hingegen kommt das Feuer sehr lebendig vor.“
    Sir Darren registrierte, wie ihm der Butler einen Tee eingoss und ihm einen der beiden noch freien Sessel zuwies. Er nickte dankbar und setzte sich. Ein kurzes Nippen am Tee verriet ihm, dass dieser von ausgezeichneter Qualität war.
    „Verzeihen Sie meine Direktheit, Sir Darren“, ergriff der Mann das Wort, der eben noch die Karte betrachtet hatte, „aber was treiben Sie so im Land der Germanen?“
    Der Angesprochene griff nach einem Butterkeks, biss eine kleine Ecke davon ab, kaute, schluckte und antwortete schließlich: „Ich bin dort Dozent an einer kleinen privaten Universität.“
    „Interessant. Ich wusste gleich, dass wir es mit einem Gelehrten zu tun haben. Und worüber dozieren Sie?“
    „Moment!“, rief der junge Mann dazwischen. „Lassen Sie mich raten! Bitte! Ich rate für mein Leben gerne. Sie unterrichten Geschichte, nicht wahr?“
    „Nicht ganz.“
    „Dann Politik. Ja, Sie sehen sehr politisch aus. Diese strengen, klaren Züge, diese entschlossenen Augen, und – verzeihen Sie – das lichte Haar. Etwas Politisches oder Militärisches. Militärstrategie? Nein, warten Sie, ich komme gleich drauf.“
    „Ich fürchte fast, Sie werden nicht darauf kommen.“ Die Befragung war ihm lästig.
    „Ach, ich weiß: Sie sind Spiritist.“
    Sir Darrens Kopf ruckte herum. Nicht der junge Mann, sondern der Zeitungsleser hatte es gesagt. Er hatte die Hände auf den Schenkeln liegen und wirkte belustigt. „Entschuldigen Sie, alle miteinander, ich habe natürlich nicht geraten. Mir ist Ihr Name ein Begriff. Die ganze Zeit grüble ich schon, wo ich ihn gehört habe, und plötzlich ist es mir eingefallen. Ich vergesse sehr selten einen Namen.“
    „Sie sind ein Spielverderber“, regte sich der junge Mann auf. „Wenn Sie es wissen, hätten Sie nichts sagen dürfen. Wir waren dabei, es zu erraten. Ich war nahe dran.“
    „Ich hatte mich bereits entschuldigt“, meinte der Zeitungsleser gelassen. „Ich hätte gewiss nichts gesagt, hätte ich nicht den Eindruck gewonnen, unserem Gast wäre das Spiel eher … unangenehm.“
    „Unangenehm? Was sollte an einem harmlosen Ratespiel unangenehm sein?“, ereiferte sich der junge Mann.
    „In der Tat ist der Spiritismus in unserer Kultur eine tadellose Wissenschaft“, meldete sich der Mann zu Wort, der die Karte inzwischen zusammengefaltet hatte. „Eine Kusine von mir ist selbst ein Medium. Ich
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