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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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Alleenbäumen, unterbrochen von langen Reihen abgestellter Fahrräder. Im Abstand von kaum hundert Metern überquerte man die Grachten, für die diese bunte, relaxte Metropole so bekannt war.
    Sir Darren ging zu schnell, als dass man von einem gemütlichen Spaziergang hätte sprechen können. Dennoch hatte er kein Ziel. Er hob den Blick nur selten, starrte die meiste Zeit auf das wechselnde Pflaster des Bürgersteigs und ignorierte das Leben, das sich um ihn herum abspielte. Er lief, um seine Unruhe abzuschütteln, doch sie folgte ihm, wohin er auch ging. Obwohl der milde, sonnige Oktobertag dazu einlud, hätte er es nicht ertragen, sich in eines der zahllosen Straßencafés zu setzen, in denen sich Fremde wie Einheimische so wohl fühlten. Die Stunden bis zum Abend erschienen ihm unendlich lang, wie eine Last, die man nur allzu langsam in winzigen Portionen abzuladen vermochte. Es machte ihn nervös, hier festzusitzen, so nahe an seinem Zielort London. Die größte Strecke hatte er schon zurückgelegt. Nicht nur in räumlicher Hinsicht, auch kulturell hatte er sich England angenähert. Die vertraute Architektur bewies es ihm.
    Was, wenn er den letzten, diesen kleinen Schritt bis auf die Insel nicht mehr schaffte? Wenn ihn etwas hier festhielt, auf dem Kontinent? Wenn man zugelassen hatte, dass er bis Holland kam, aber nicht weiter?
    Was ihm in der Buchhandlung zugestoßen war, mochte ein Zufall sein. Falls es kein Zufall war, was bedeutete es dann? Sir Darren war kein Mensch, der sich in Sicherheit wiegte, solange ein Damoklesschwert über ihm schwebte. Er wusste um die Gefahr, in der er sich befand, und er musste stets damit rechnen, dass die Schattenwelt ein weiteres Mal zuschlug. Der nächste Zug der Geister war überfällig. Das letzte Mal hatten seine erzürnten Geistführer ihm in einem abgelegenen Dorf nahe der österreichischen Grenze aufgelauert. Schon damals hatten sie ihn an den Ort geführt, an dem sie ihn haben wollten. Mit einem Hinweisschild auf eine Herberge hatten sie ihn auf den Fußweg zu dem merkwürdigen Weiler gelockt, und wer konnte sagen, ob sie nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt eingegriffen hatten, um seinen Weg in ihre Richtung zu lenken?
    Er wäre ein Narr gewesen, hätte er nicht in Betracht gezogen, dass er beobachtet wurde. Und dass er an unsichtbaren Fäden hing wie eine Marionette. Es war ein scheußliches Gefühl, scheußlicher als alles, was er kannte. Es war furchtbar, nicht frei zu sein – aber noch schlimmer war es, nicht einmal zu wissen, ob man frei war oder ein Sklave.
    Bis zum Hauptbahnhof, der Centraal Station, hatte der Zug zwanzig Minuten gebraucht. Von dort aus war Sir Darren zu Fuß durch die Altstadt gegangen. Er hatte das Rotlichtviertel links hinter sich gelassen und sich in westliche Richtung gewandt, denn die Straßenzüge dort schienen ihm älter und einladender als jene in der entgegengesetzten Richtung. Er kam am Koninklijk Paleis vorbei, der von Touristen belagert war, die wie hypnotisiert auf die Displays ihrer Digitalkameras starrten. Er überquerte mehrere Grachten und erreichte den Stadtteil, der den Namen Jordaan trug. Dort verirrte er sich hoffnungslos in dem enger werdenden Straßengewirr.
    In der Prinsengracht, die die Ostgrenze des Stadtteils bildete, lagen Hausboote. Aus einigen von ihnen stieg der Duft von Gebratenem auf. Es ging auf die Zeit des Abendessens zu.
    Sir Darren war kein großer Esser, und auch der Grillgeruch vermochte seinen Appetit nicht zu wecken. Doch er erinnerte ihn daran, dass er noch kein Quartier für die Nacht gebucht hatte – die Empfehlungen auf dem Flughafen hatte er trotzig zurückgewiesen. Seine Laune hatte sich seither nicht gebessert.
    In einer der Gassen stoppte er plötzlich seinen Gang.
    Es war eines dieser weißen, frischen Häuser, die auch in London hätten stehen können. Eine marineblaue Tür dominierte die schmale Front, darauf ein Messingschild mit der Hausnummer und einer Aufschrift:
    „British Reformers Club – for the continental British, established in 1872“
    Es war erstaunlich, dass der Text ihm überhaupt aufgefallen war, denn die Buchstaben waren winzig, aber die Tatsache, dass das Wörtchen „British“ gleich zweimal darin vorkam, musste ihm ins Auge gestochen sein.
    Das Gebäude unterschied sich kaum von seinen Nachbarhäusern. Lediglich schien es ein wenig anders zu riechen , falls man das wirklich von der Straße aus sagen konnte. Was für ein Geruch das war, vermochte er nicht zu
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