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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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machen. Verkrampft stand er an der Reling und beobachtete das dunkle Schemen, das allmählich verschwand, als die Sonne einen blendenden Glanz über das Meer legte.
    Natürlich fragte er sich, ob er sich geirrt haben mochte. Seine Nerven konnten ihm einen Streich gespielt haben, was angesichts seines Wissens nur verständlich gewesen wäre. Doch dann zählte er eins und eins zusammen, und das machte ihn sicher, dass das Wesen tatsächlich dort unten sein musste.
    Das Monstrum, dem er auf der Libera Nos zum ersten Mal begegnet war, hatte ihn auf seiner gesamten Seereise verfolgt. Es war ihm sogar unter dem Eis des Südpols auf den Fersen gewesen und später auf seiner wundersam schnellen Fahrt nach New York. In den Jahrzehnten, in denen er die Staaten bereist hatte, war es ihm nicht begegnet, denn er war auf dem Festland geblieben. Doch es hatte ihn nicht vergessen. Die ganze Zeit über musste es auf ihn gewartet haben. Und nun war offenbar der Zeitpunkt gekommen, an dem es sich zeigte.
    Diesmal würde es angreifen.
    Ihm wurde eiskalt, als versinke er bereits in den dunklen Fluten. Die aufsteigende Sonne konnte ihn nicht wärmen. Jetzt verstand er.
    Das Grauen der Mary Celeste – war er selbst! Er hatte den Untergang des Schiffes besiegelt, als er um die Überfahrt bat. Ihn jagte die Kreatur, ihn würde sie in den Tod reißen – und die gesamte Besatzung dazu.
    Das … das wollte er nicht glauben! Er durfte nicht verantwortlich sein für den Tod dieser Menschen, für die Männer, für die Frau des Kapitäns und ihre kleine Tochter! Es musste alles ein … ein dummer …
    Zufälle gab es nicht. Er hatte sich geschworen, Zufälle nicht mehr in Betracht zu ziehen. Aber wenn das so war, warum hatte er dann die Zusammenhänge nicht schon früher begriffen? Sie lagen auf der Hand, hatten schon immer auf der Hand gelegen! Er hatte nicht daran gedacht, weil er sich einbildete, bisher nicht in den Lauf der Zeit eingegriffen zu haben. Während der Jahrzehnte in den Staaten hatte er nur beobachtet, sich weitgehend im Hintergrund gehalten, nichts getan, was die Geschichte tiefgreifend verändern konnte – und hatte aufgehört zu glauben, dass er dazu überhaupt in der Lage war. Doch jetzt geschah es. Seine Anwesenheit machte den Unterschied. Er veränderte die Zukunft.
    Nein, das war nicht richtig. Das Unglück hatte sich bereits ereignet – schließlich wusste er längst davon. Er änderte nichts. Er tat nur das, was längst festgestanden hatte. Wie bisher.
    Lange, dunkle Tentakel klatschten gegen die Steuerbordseite des Rumpfs. Sir Darren wich zurück und sah sich gehetzt nach den anderen um. War es besser, sie zu alarmieren? Was sollte er tun? War es nicht die beste Idee, sich über die Reling zu stürzen und sich dem Ungeheuer zu opfern? Vielleicht ließ es die anderen dann in Frieden.
    Zwei Matrosen kamen angerannt. Sie hatten die unnatürlichen Geräusche gehört, die sich dröhnend durchs gesamte Schiff fortgepflanzt haben mussten. Sir Darren versuchte sie zurückzuhalten – ohne Erfolg. Ihre Augen wurden groß, als sie sahen, dass dort unten etwas war, das an Bord zu kommen versuchte.
    „Ein Krake!“, rief einer von ihnen. „Ein Riesenkrake! Schnell, eine Harpune!“
    Der zweite rührte sich nicht. Wäre es nur ein Krake gewesen, hätte er vielleicht reagiert. Doch dieses Ding hatte Augen rund um seinen unförmigen Kopf herum, und Münder über Münder. Seine Fangarme waren nicht glatt und glitschig, sondern zerschlissen wie altes Segeltuch. Und Sir Darren konnte erkennen, wie der Matrose dort etwas sah, was auch er mehr als ein einmal gesehen hatte: die eigene Angst. Das Geschöpf schleuderte einem Menschen die gesamte Angst entgegen, zu der dieser fähig war. Und das war stets mehr, als man ertragen konnte.
    Der erste Matrose, der offenbar nicht lange genug hingesehen hatte, um dasselbe Schicksal zu erleiden, hastete über das Deck, rief nach dem Kapitän und erschien kurz darauf wieder mit einer Harpune.
    Doch es war bereits zu spät.
    Die Kreatur war an Bord gekrochen.
    Diesmal flog sie nicht, wie sie es auf der Libera Nos vermocht hatte. Sie war langsamer, träger geworden. Ein finsterer, hässlicher Engel hatte sich in ein kriechendes Grauen verwandelt. Noch begriff Sir Darren nicht, warum das so war. Aber er würde es schon bald verstehen.
    Die Reling zerbrach unter dem Griff der Arme. Der Matrose schleuderte seine Harpune und verfehlte sein Ziel knapp.
    „Weg hier!“
    „Wohin denn?“
    Die Crew lief
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