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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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war in dieser Realität vieles anders als in der, die er kannte. Sein Verstand hatte sich verändert, war in mancher Hinsicht flexibler, in mancher Hinsicht unzuverlässiger geworden.
    Die Küstenlinie sagte ihm zunächst nichts. Als sie näher an den Hafen kamen, gab es viele Schiffe zu bewundern, prächtige historische Segelschiffe, wie jene, auf denen er in den letzten Monaten gefahren war, doch keine der modernen Frachter, die bei ihrer Abfahrt in Amsterdam zu sehen gewesen waren. Er kniff die Lippen zusammen. Sein wundersames Abenteuer war also noch nicht zu Ende …
    Mehrmals während der Reise hatte Sir Darren die Möglichkeit erwogen, in die Vergangenheit gerissen worden zu sein. Seit er Jakarta verlassen hatte, wo er sich noch im 21. Jahrhundert befunden haben musste, hatte er keine Anhaltspunkte mehr, ob er noch in seiner Zeit weilte. Der Anblick dieser Segelschiffe verdichtete seinen Verdacht. Falls hier nicht gerade zufällig eine Festlichkeit mit einer Parade alter Schiffe stattfand, mochte dies das 18. Jahrhundert sein. Im frühen 19. Jahrhundert waren die ersten Dampfer aufgekommen, und von ihnen war nichts zu sehen …
    Der einzige Anhaltspunkt, den er hatte, war das Jahr 1798. In diesem Jahr hatte Coleridge seine Ballade vom alten Seemann geschrieben. Es hätte Sinn gemacht, wenn er in derselben Zeit angekommen wäre. Schließlich war er der „Ancient Mariner“ – in gewisser Hinsicht zumindest.
    Je näher er kam, desto mehr faszinierte ihn die Größe des Hafens. Und dann sah er die Flaggen, die an den Schiffen wehten. Es gab Fahnen aus den unterschiedlichsten Ländern, darunter viele, die heute nicht mehr verwendet wurden. Die weitaus meisten davon allerdings hatten rote und weiße Streifen und eine Handvoll weißer Sterne auf blauem Grund.
    Er fuhr in einen amerikanischen Hafen ein!

5
    Ein Mann irrte vierundsiebzig Jahre lang durch die USA, und in dieser Zeit alterte er nicht.
    Er war im Jahr 1798 mit einem englischen Schiff im Hafen von New York (der Stadt, die bei ihrer Gründung New Amsterdam geheißen hatte) angekommen, und Augenzeugen wollten beobachtet haben, wie das Wasser am Kai für einen Moment aufgewühlt worden war, als der Passagier an Land ging. Der Kopf eines Ungeheuers war sichtbar geworden, und zerschlissene Fangarme klatschten gegen die bemooste Wand des Piers. Niemand schenkte den beiden Hafenarbeitern Glauben.
    Als Sir Darren herausgefunden hatte, in welcher Zeit und an welchem Ort er sich befand, zog er es in Erwägung, auf dem schnellsten Weg nach Europa weiterzureisen. Eine der interessantesten Epochen europäischer Geschichte lag vor ihm, und der Gedanke, die direkten Auswirkungen der französischen Revolution, Napoleons Kriege und vieles andere aus direkter Anschauung erleben zu können, erfüllte ihn mit Faszination. Doch er hatte kein Geld für die Überfahrt, und die Angst vor dem Wesen, das möglicherweise im Meer lauerte und nicht zulassen würde, dass er Europa jemals erreichte, war übermächtig. Vielleicht war es nicht die schlechteste Idee, sich zunächst einmal in der Neuen Welt umzutun.
    Also schlug er sich in den Vereinigten Staaten durch. Als belesener Mann hatte er viele wichtige Ereignisse im Kopf und schaffte es, den interessanteren davon beizuwohnen und den gefährlicheren auszuweichen. Er spürte, dass er nicht unsterblich war, aber nicht alterte. Er lebte, und er brauchte Nahrung und Schlaf wie andere Menschen auch. Einer der spannendsten Momenten war jener, als er mit eigenen Augen beobachten konnte, wie im Jahr 1832 ein junger Schriftsteller in Baltimore eine Flaschenpost aus dem Intercoastal Waterway zog. Sir Darren hatte wochenlang nach Poe gesucht und ihn, als er ihn aufgestöbert hatte, einige Zeit bei seinen Spaziergängen beobachtet. Dass er tatsächlich Zeuge werden würde, wie Poe das von Sir Darren geschriebene Manuskript fand, auf dem er wenig später seine Geschichte „Manuskript, gefunden in einer Flasche“ aufbaute, hatte er nicht zu hoffen gewagt.
    Aus Sir Darren wurde allmählich ein anderer Mensch. Ein Mensch, der das Staunen wieder lernte. Die Wette, von der er angenommen hatte, sie würde die letzten achtzig Tage seines Lebens einläuten, würde ihm stattdessen mehr als zweihundert zusätzliche Lebensjahre bescheren, soviel begriff er jetzt. Achtzig Tage oder acht Wochen – sein lächerlicher Fehler spielte keine Rolle mehr, denn seine Frist würde erst im Winter 2004 ablaufen. Bis dahin musste er nur am Leben bleiben und nach
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