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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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zusammen und stand dem Grauen dennoch wehrlos gegenüber. Sir Darren wollte sich an ihnen vorbeidrücken, doch sie hielten ihn hinter sich, in der Absicht, ihren Passagier zu schützen. Diese heldenhafte Einstellung währte nur wenige Sekunden. In den zahllosen kleinen Augen spiegelte sich etwas, das auch Odysseus zu einem wimmernden Feigling gemacht hätte.
    „Runter vom Schiff!“ Es war die Stimme von Kapitän Briggs! Was redete er da? Wenn sie das Schiff verließen, waren sie dem Monstrum hilflos ausgeliefert. Wenn sie eine Chance hatten, dann nur hier an Bord, wo es sich nur schwerfällig fortbewegen konnte.
    Der zweite Maat und zwei Matrosen eilten auf das Beiboot zu, die anderen waren unschlüssig. Auch der Koch war inzwischen an Deck eingetroffen, und dicht hinter ihm folgte die Gattin des Kapitäns mit ihrem Kind auf dem Arm. Das Kleinkind war zu erschrocken, um zu schreien. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde der erste Maat zusammen mit den mutigeren der zwei Matrosen einen Angriff gegen das Monster wagen. Sie griffen nach allem, was sich als Waffe benutzen ließ und gingen einige Schritte auf die Gefahr zu.
    Doch dann stieß die Frau des Kapitäns einen gellenden Schrei aus und lief auf die gegenüberliegende Reling zu. Panik brach aus, jemand rannte hinter ihr her und versuchte sie festzuhalten. Zu spät. Sie ging über Bord, ehe er sie erreichte. Ihr weißes Kleid verfing sich an einem Pfosten, doch der Stoff konnte sie nicht halten – er zerriss, und die Frau klatschte ins Wasser, während ein Stück ihres Rockes an der Reling wehte wie eine Kapitulationsflagge. Der Mann, der sie hatte retten wollen, stand hilflos mit abgespreizten Armen da.
    Alle ergriffen jetzt die Flucht. Die Männer, die versucht hatten, das Beiboot fertig zu machen, gaben ihr Vorhaben auf, als sich das Wesen ihnen näherte. Sir Darren beobachtete vollkommen gelähmt, wie einer nach dem anderen über Bord sprang. Der Kapitän war der letzte, und er würde sein vor Grauen verzerrtes Gesicht nie vergessen.
    Sir Darren entschied sich ebenfalls zur Flucht, doch anstatt den Weg über die Reling zu nehmen, stolperte er den Niedergang hinab, um sich unter Deck zu verbergen. Das Geschöpf war groß. Vielleicht fand er einen Ort, der so eng war, dass es sich nicht hineinzwängen konnte. Natürlich war das unmöglich, denn die langen Tentakeln würde jede Ritze erreichen, doch auch in seinem Hirn regierte die Angst, und die diktierte ihm, sich zu verkriechen wie eine Kakerlake auf der Flucht vor dem Zertretenwerden.
    Er erreichte die Kajüte, kletterte auf eines der Betten, ohne zu wissen warum, und sah sich fieberhaft nach einem Versteck um. Die Tür, die er hinter sich geschlossen hatte, zerbarst. Die zerschlissenen Arme strömten herein, als hätte jemand ein Tor in ein Albtraumreich geöffnet.
    Seine Panik machte ihm das Atmen unmöglich. Er drückte sich gegen die Wand und spürte im Rücken das Bullauge. Alles in ihm wünschte sich, diesen Raum zu verlassen, auch wenn es bedeutete, dass er starb, und seine zitternden Finger entriegelten das runde Fenster und öffneten es. Als die Arme in seine Richtung zuckten, zwängte er sich durch das Bullauge und stürzte hinaus in den Ozean.

7
    Für kurze Zeit war er alleine. Der Aufprall auf die Wasseroberfläche hatte die Luft aus seinen Lungen gedrückt, und er war erst einmal einige Meter in die Tiefe gesunken, ehe er zu Schwimmbewegungen fähig war und an die Oberfläche kam. Selbst dann musste er sich zum Atmen zwingen.
    Das Wasser war kalt, aber er spürte die Kälte kaum mehr, als ein schwarzer Schatten auf ihn zu glitt. Arme berührten ihn zuerst, umschlungen ihn dann. Noch zogen sie ihn nicht unter Wasser. Er atmete tief ein und aus, keuchend, pfeifend. Die Angst drohte ihn zu zerdrücken, und vielleicht würde er gar nicht ertrinken, sondern an einem Herzstillstand sterben. Einmal war er dem Wesen im Wasser begegnet, und damals hatte er Glück gehabt, denn der Strudel hatte sie auseinander getrieben. Hier gab es keine Strudel, nur einen etwas rauen Wellengang.
    Was er als unsterbliches Gespenst gefürchtet hatte, fürchtete er als lebendiger Mensch noch viel mehr. Die Angst potenzierte sich, wurde groß wie ein Berg und …
    Angst konnte man überwinden.
    Angst war etwas anderes als Gefahr. Gefahr konnte aussichtslos sein. Angst war stets beherrschbar. Aber man konnte die Angst nicht kontrollieren, solange man vor ihr floh. Man musste ihr entgegentreten.
    Alle seine
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