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316 - Die Pest in Venedig

316 - Die Pest in Venedig

Titel: 316 - Die Pest in Venedig
Autoren: Michelle Stern
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dunkel, bereits auf Speicherkristallen von ihr gelesen zu haben. Sie hieß Igin’dir, lag zwischen den Inseln Indonesiens und war nach menschlicher Zeitrechnung vor über dreitausendfünfhundert Jahren aufgegeben worden. »Wir müssen uns zwischen 2200 bis 1200 vor Christus befinden«, teilte er Quart’ol seine Schlussfolgerungen mit.
    »So früh?« Quart’ols Scheitelkamm hing so schlaff herab, dass sich Gilam’esh wünschte, geschwiegen zu haben. Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Quart’ol schien schwer mit dieser Erkenntnis fertig zu werden.
    Sie folgten der kerzengerade verlegten Röhre. Quart’ol schien es immer schlechter zu gehen. Seine Schwimmbewegungen zeigten keinen Schwung. Er wirkte wie ein uralter Hydrit, der dem Tod näher als am Leben war. Obwohl sie von reichhaltiger pflanzlicher Nahrung umgeben waren, aß Quart’ol kaum noch.
    Gab er sich in der fremden Zeit mehr und mehr auf? Wollte er vielleicht sogar sterben, weil er keine Hoffnung mehr sah? Gilam’esh überlegte, ihn darauf anzusprechen – als er plötzlich die Transportqualle entdeckte. Sie zog keine fünfzig Meter weiter durch das offene Meer. »Quart’ol! Sieh nur!« Er zeigte auf das bionetische Unterwassergefährt.
    Quart’ol drehte sich langsam im Wasser um. »Schön«, klackte er angespannt. »Bleibt nur die Frage, wer drin sitzt: Freund oder Feind.«
    ***
    Venedig, 1348
    Xij schwang im Netz durch die Luft. Ihr Herz raste. Sie hörte die Stimmen der Menge. Wütende Rufe, raues Gelächter, aufgekratztes Kichern, irgendwer applaudierte. Unter sich sah sie den Boden vorbeifliegen, das Wasser blitzte auf. Der modrige Geruch von nassem, verfaulten Holz und Algen mischte sich mit dem Schweißgestank ihrer Peiniger.
    Da endete die Bewegung abrupt.
    Der Kaufmann protestierte lautstark. Xij sah verwirrt um sich und erkannte einen Mann in der Uniform einer Wache. Er hielt den Kaufmann mit der Fellmütze am Oberarm gepackt. Drei weitere Wachen drängten sich mit gezückten Schwertern in die Menschenmasse und trieben sie auseinander. Erleichterung durchströmte sie. Hatte der Soldat Unterstützung herbeigerufen?
    Zwei Gaukler griffen nach ihr, um das Werk des fluchenden Kaufmanns doch noch zu beenden.
    »Halt!«, erklang eine dunkle Stimme. »Lasst von der Frau ab!«
    Xij schloss für einen Moment die Augen und atmete auf. Die Männer legten sie ab und wichen von ihr zurück. Schwerfällig drehte Xij den Kopf. Ein prachtvoll gekleideter Mann stand auf dem Platz, flankiert von sechs bewaffneten Wachen. Von den teuren Stiefeln über den hochwertig gewirkten Mantel mit Hermelinfellbesatz bis hin zu den gepflegten schwarzen Haaren wirkte der Fremde wie ein Adeliger. Dazu trug auch seine herrische Körperhaltung bei: Man legte sich besser nicht mit ihm an.
    Der Kleidung nach könnte er Doge sein oder zumindest zu der Familie der Herrscher gehören. Ob er Mitglied eines Rates ist?
    Xij schälte sich mit zittrigen Fingern aus dem Fischernetz und setzte sich auf. Mit weichen Knien versuchte sie, auf die Beine zu kommen. Sie brauchte zwei Anläufe und die Unterstützung der Wache neben sich, die sie beherzt am Ellbogen packte und stützte. »Danke«, brachte sie hervor. »Das war Rettung im letzten Moment.«
    Die unmittelbare Gefahr war vorüber. Die Menge zerstreute sich, misstrauische und teils hasserfüllte Blicke auf den Adligen und sein Gefolge werfend. Xij erhaschte einen letzten feindseligen Blick des Kaufmanns, ehe auch er sich gemeinsam mit den Gauklern zurückzog und dem reichen Herrn das Feld überließ. Die braune Fellmütze verschwand in der Menge.
    Der Adlige trat auf sie zu, während seine Wachen respektvoll hinter ihn zurückwichen. Aus der Nähe wirkte sein Gesicht noch eindrucksvoller. Sinnliche Lippen verzogen sich unter einer scharfkantigen Nase zu einem Lächeln. Das spitze Kinn wirkte energisch. Etwas an seinen Zügen irritierte sie, aber sie erfasste nicht, was es war. »Gern geschehen. Wie ist dein Name, Signorina?«
    »Xij Hamlet, Herr. Und wem verdanke ich meine Rettung?« Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn abwartend. Auch für ihn musste ihre Kleidung fremd wirken. Würde er sie verhaften lassen?
    Er lachte. »Für eine Frau, die gerade dem Tod entrann, hast du einen forschen Ton, Signorina Hamlet. Aber die Frage ist gerechtfertigt, da du offensichtlich neu in der Stadt bist.« Er deutete eine winzige Verneigung an, eher ein gönnerhaftes Nicken. »Mein Name ist Angelo da Bellini. Ich bin der
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