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316 - Die Pest in Venedig

316 - Die Pest in Venedig

Titel: 316 - Die Pest in Venedig
Autoren: Michelle Stern
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Gewürze, Kräuter und Geflügel darstellte. Türkische Muslime mit Turban, Armenier, Juden mit Schläfenlocken, Seeleute und Pilger, sie alle kauften und verkauften, redeten in vielen verschiedenen Sprachen aufeinander ein. Und sie alle wurden still, drehten neugierig ihre Köpfe und musterten ihn, den sonderbaren Fremdling in der ungewöhnlichen Kleidung – ein schwarzes T-Shirt, Hosen aus marsianischer Spinnenseide und halbhohe Stiefel –, wenn er vorübereilte.
    »Die anderen Primärrassenvertreter werden auf dich aufmerksam«, sagte Grao’sil’aana überflüssigerweise.
    »Runter vom Markt«, zischte Matt und lief an einer kunstvoll gekleideten Dame mit weitem Rock vorbei. In welchem Jahr waren sie gelandet? Auf jeden Fall musste es das späte Mittelalter sein. Die Frau drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um und sagte etwas auf Italienisch. Matt blieb nicht stehen, um darüber zu rätseln, was es bedeutete.
    Er erreichte das Ende des Platzes und hielt auf eine weitere Brücke zu. Angespannt sah er sich um. Irgendwo musste es einen Ort geben, an den er sich unauffällig zurückziehen konnte. Aber wo? Es wimmelte vor Leuten, wohin er auch blickte. Nach den langen Jahren auf der postapokalyptischen Erde fühlte er sich so eingeengt, als würde er nach zehn Jahren Klosteraufenthalt in einer New Yorker Shopping Mall Weihnachtsgeschenke einkaufen müssen.
    Grao’sil’aana überholte ihn. »Da vorn, der Hauseingang!« Er zeigte auf ein schmales vierstöckiges Haus mit Bogenfenstern, das von vielen Rissen und Sprüngen verunstaltet wurde. Das Erdbeben hinterließ seine Spuren. Oder sah das Gebäude schon länger so aus? Der aufgemalte geflügelte Löwe an der Wand war bis zur Unkenntlichkeit verblichen.
    Sie erreichten den schützenden Eingang. Ein fauliger Geruch nach Moder und Schimmel strömte ihnen entgegen. Matt presste sich die Hand vor den Mund. Der Gestank war übelerregend.
    Obwohl das Haus heruntergekommen und einsturzgefährdet wirkte, war es offensichtlich nicht nur bewohnt, sondern sogar überfüllt. Im Inneren tönten Stimmen und Geräusche. Ein schwarzhaariger Mann in einfachem Gewand drängte sich an ihnen vorbei und rief etwas. Da Matt kein Italienisch sprach, konnte er nur raten, was es zu bedeuten hatte. Sicherheitshalber wich er ein Stück vom Eingang zurück.
    Grao’sil’aana stellte sich vor ihn, damit sein ungewöhnlicher Aufzug verdeckt wurde. Ein weiterer Mann in schlichter Kleidung kam mit polternden Schritten das schmale Treppenhaus herunter. Vielleicht ein Handwerker oder Arbeiter. Er trug einen zweiten Mann auf dem Rücken. Eine Leiche. Über Matts Nacken lief ein kalter Schauer. Die Hände des Toten hatten sich an den Nägeln unnatürlich schwarz verfärbt, als wäre die Haut in Kohle gerieben worden.
    Matts Blick fiel auf zwei Ratten, die sich nicht weit vom Eingang an die Hauswand drückten. Es waren nicht die einzigen auf dem Platz. Bei genauerem Hinsehen konnte er überall zwischen den Ständen und Gebäuden weitere Ratten ausmachen. Erst in diesem Moment begriff er die Gefahr. In Venedig, dem Tor zur Welt, grassierte die Pest!
    Entsetzt zog er Grao’sil’aana zurück auf den Platz, um nicht mit dem Toten und seinem Träger in Berührung zu kommen. Sie mussten weg. Aber wohin sollten sie fliehen? Die Pest blieb so allgegenwärtig wie das farbenfrohe Heer aus Menschen.
    Eine Hure grinste ihn an der nächsten Hausecke mit schwarzen Zähnen an. Sie machte einladende Gesten, die an Eindeutigkeit nicht zu überbieten waren. Matt schüttelte den Kopf und wandte sich mit flauem Magen ab. Die zahlreichen Gesichter auf dem Platz verschwammen zu verwaschenen hellen und dunklen Flecken. Er fühlte sich elend, die aufkommende Angst und der noch immer schwach wahrnehmbare Gestank von Moder und Tod würgten ihn. In seiner Erinnerung saß er wieder im Hörsaal der Columbia University, im Seminar »Italienische Geschichte – das große Sterben [1] «.
    Vor dem Antibiotikum hatte es kein Heilmittel gegen die Pest gegeben. Gerade Venedig als Schnittstelle zwischen Okzident und Orient war immer wieder Schauplatz der Seuche geworden. Allein zwischen der Mitte des 14. und 16. Jahrhunderts wurde es mehr als zwanzigmal heimgesucht. Im 17. Jahrhundert konnte keine europäische Metropole mit den Quarantänebestimmungen der Stadt mithalten – und doch kam es erneut zur Katastrophe. Die Sterblichkeitsrate lag je nach Art der Pest bei siebzig bis hundert Prozent. Wer sich infizierte, starb.
    Ihn
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