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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden
Autoren: Karl May
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sich. Seine Augen wurden starr. Sein Mund öffnete sich, wie bei jemand, der im Ohr taub ist und doch etwas hören will. Seine Hände fielen nach unten und spreizten die Finger aus – – – aber ich konnte ihn nicht weiter beobachten, weil nun Waller meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Tsi und Fang, die beiden Ärzte, waren sofort zu ihrem Patienten herangetreten, als sie erkannten, daß ihm jetzt nun die befürchtete innere Aufregung nicht mehr erspart werden könne. Warum sahen sie beide so streng, fast wie unerbittlich aus? Warum hielt besonders Tsi beide Fäuste geballt? So entschlossen sieht nur derjenige aus, dem ein Kampf auf Leben und Tod bevorsteht! Ich ahnte es. Es galt geistiges Leben und geistigen Tod! Und auch die andern alle traten dem Eingedrungenen gegenüber zusammen, als ob sie deutlich fühlten, daß ihnen von ihm aus schwerer, innerlicher Schaden drohe.
    Waller war vorher in guter Stimmung und ganz wohl gewesen. Dann hatte ihn jedenfalls das laute und längere Sprechen etwas angegriffen gehabt. Jetzt nun schien ein doppelter Einfluß über ihn zu kommen, ein stärkender und ein schwächender, einer, der ihn heben und einer, der ihn niederdrücken wollte. Sein Gesicht fiel plötzlich zusammen, so daß er aussah wie in den schlimmsten Tagen seiner Krankheit. Seine Augen wurden stier; sein Mund öffnete sich, und seine Hände und Finger spreizten sich genau wie bei Dilke. Aber mit kräftiger Stimme und in entschlossenem Ton sagte er:
    „Ich muß mich aufrichten – – – ich muß stehen – – – selbst wenn ich wieder zusammenbrechen müßte – – –! Ich bin kein Waller mehr – – –! Haltet mich – – – ich bitte euch!“
    Ich warf einen fragenden Blick auf Fang und Tsi. Beide nickten zustimmend. Da nahm ich Waller unter den Armen, hob ihn vom Lager, stellte ihn aufrecht hin und lehnte ihn an mich fest. Mary schob schnell ihren Sitz heran und schlang ihre Arme ebenso um den Vater. So stand er aufrecht, ohne daß er fallen konnte; beide nun einander gegenüber.
    Das war eine eigenartige, beängstigende, für den Psychologen freilich hochinteressante Situation! Der eine hatte beinahe denselben Gesichtsausdruck wie der andere. Das geistig Bewußte trat zurück, fast zusehendes, möchte ich sagen; die Sicherheit wich aus den Blicken, und die Stimme Wallers klang ungewiß und doch und doch auch energisch, als er jetzt in unterdrücktem Ton sagte:
    „Es soll mich jemand verlassen und will doch nicht! Ich werde schwächer – – – Wer steht da drüben, wer? Ich fühle, daß ich es war – – – und dennoch bin ich hier!“
    Und drüben sprach der andere mit grinsendem Gesicht:
    „Da nimmt er alle Kraft zusammen und wird doch nur von andern aufgerafft! Aber wer – – – wer – – – wer ist – – – wer spricht – – – holla! Ich bin ja doch nicht er! Bin ich es etwa, der nun am Boden liegt, weil der da drüben aufgestanden ist?“
    Das letztere hatte er laut, sehr laut gesagt. Da rief ihm Waller ebenso laut zu:
    „Wer bist du? Sag es! Der Neffe oder der Oheim?“
    Da antwortete Tsi schnell an des Gefragten Stelle, fest, bestimmt und scharf, jede Widerrede abschneidend:
    „Beides ist er, beides! Die beiden einzigen Waller, die es hier gibt, das ist er! Er allein!“
    Als ich diese Worte hörte, ging es mir durch und durch. Ich hatte beinahe dasselbe Gefühl wie damals, als mein Hadschi Halef Omar bei den Dschamikun im Sterben lag und der Ustad die bereits fliehende Seele dadurch festhielt, daß er ihn, genauso laut, bestimmt und nachdrücklich wie hier, bei allen seinen Namen und auch nach seinem Titel nannte. Wie sonderbar! Hier in China ganz dieselbe Ansicht über Geist und Seele des Menschen wie damals dort in Persien.
    Die Wirkung war eine sofortige. Drüben erscholl ein Schrei, und auch hüben erscholl ein Schrei. Dann starrten sie einander an, ohne Ausdruck in den Gesichtern und ohne Worte. Das war der Augenblick, der entscheidende, der fürchterliche, entsetzliche! Sie standen einander gegenüber, beide: der aus der geistigen Nacht Kommende und der in die geistige Nacht gehende! Konnten sie aneinander vorüber? War es möglich, den schon fast Geheilten wieder mit hinabzuzerren?
    „Vater, lieber Vater“, bat Mary voller Angst, indem sie sich fest an ihn drückte. „Erlaubst du, daß ich Mutter rufe? Bleib hier; bleib hier!“
    Da suchte seine Hand nach ihr. Sie ergriff sie und drückte sie in wiederholtem Kuß an
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