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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden
Autoren: Karl May
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unter prächtigen, seidenen Decken. Die Vorhänge waren von beiden Bildern weggezogen. Jetzt aber erschien ein Diener, welcher sie wieder vor sie zog, weil die Herrschaften in einigen Augenblicken erscheinen würden, sagte er.
    Und so war es allerdings. Es dauerte nicht lange, so traten sie herein, sie alle, alle, von Fu und John, den beiden Höchsten, an, bis herunter auf die letzten ‚Spitzen der hiesigen Gesellschaft‘. Yin ging heut nicht nach hinten, um, wie bei mir, die Saiten erklingen zu lassen. Sie hatte andere Pflichten, die eine Chinesin sonst nicht zu haben pflegt; nämlich man höre und staune: die ‚Pflichten der Repräsentation‘! Ich beeilte mich, Tsi mitzuteilen, warum Waller sich noch hier befand, und erfuhr sodann von ihm, daß weder der Sejjid noch Dilke zu finden gewesen seien. Das beunruhigte mich, doch war jetzt nichts zu machen. Ich setzte mich da, wo ich bisher gewesen war, nämlich an der Seite Wallers, wieder nieder. Dieser raunte mir zu:
    „Der Reverend hat mir die Sage auch erzählt, die er wahrscheinlich jetzt nun vorzutragen hat, vom Land Ti und für das erste Bild. Für das zweite möchte dann ich etwas sagen. Bitte, sorgt dafür, daß man mich höre! Leider, leider spreche ich nur schlecht chinesisch, der beste Beweis, daß ich verrückt gewesen bin; aber wenn ich langsam sprechen darf und nicht in Müdigkeit versinke, so wird es mir vielleicht gelingen, trotzdem verstanden zu werden.“
    Man war so rücksichtsvoll, den Kranken nicht zu belästigen; es war, als ob er nicht vorhanden sei. Er hatte ganz richtig vermutet: Pfarrer Heartman erzählte als Einleitungsrede die Sage aus dem Land Ti – ich bitte, sie nochmals durchzulesen – und gab sodann das Bild der einen Seite frei, die Darstellung des Sündenfalles, der Vertreibung des Menschengeistes und aller seiner Untertanen aus dem Paradies. Es war still, man sagt ‚kirchenstill‘, im ganzen, großen Raum. Niemand sprach ein Wort, kein einziger; aber man sah diesen buddhistischen Priestern allen an, wie tief, wie außerordentlich tief sie von der gewaltigen Predigt ergriffen wurden, die sie hier nicht hörten, sondern sahen. Und ebenso groß war die Wirkung auf die übrigen Chinesen. Einen der Untergebenen des Ho-Schang hatte die unwiderstehliche Kraft dieser Kunst derart gepackt, daß er am ganzen Körper zitterte und es aber doch nicht vermochte, die Augen von dem Bild abzuwenden.
    Während ich den aus dem Paradies stürzenden Figuren mit meinem Blick folgte, bis sie ganz draußen in der scheinbaren Ferne im schmutzig dichten Violett verschwanden, gewahrte ich, daß sich da hinten, zwischen den Bäumen der Orangerie, etwas bewegte. Es gab jedenfalls einen Menschen dort, der aber so hinter den Zweigen stand, daß sein Körper nicht zu sehen war. Vielleicht waren es auch zwei. Ich dachte sogleich an Dilke, wies aber diesen Gedanken gleich wieder zurück. Warum sollte es grad dieser Mensch sein und nicht, was doch im höchsten Grade wahrscheinlich war, jemand aus der Dienerschaft!
    Jetzt ging der Reverend nach der Leitung, um auch das zweite Bild von dem Vorhang zu befreien. Waller bemerkte das. Er richtete sich schnell gerader auf und begann zu sprechen. Natürlich schauten alle Anwesenden sofort zu ihm her. Die Worte kamen ihm langsam, laut und vernehmlich, doch mit hörbarer Anstrengung von den Lippen. Man bemerkte deutlich, daß er zuweilen nach dem richtigen Ausdruck suchte:
    „Und in demselben Land Ti, doch unten in der Hölle, wo alle Menschen Teufel sind, konnte man noch eine andere Sage hören. Auch sie war viele tausend Jahre alt und lautete folgendermaßen: Als der Menschengeist aus dem Paradies gestoßen worden war, begann er zu erkennen, wie töricht er gehandelt hatte. Er klagte sich an und jammerte, doch immer so, daß es kein Teufel hörte. Da trat die ‚Shen‘ im Traum zu ihm hin und sprach: ‚Die Reue ist der Engel der Gestürzten; er führt mich her zu dir. Einst kommt der Herr, mich wieder aufzuwecken und euch ins Paradies zurückzuführen. Dann seid ihr wieder Menschen, doch nicht schon Selige. Das Paradies der Erde ist nicht das Himmelreich des Welterlösers, doch hat das letztere zum ersteren zu kommen. Wann wird das sein?‘ Sie schwieg für einen Augenblick, erhob das Auge wie in weite Ferne und fuhr dann fort: ‚Wenn einst die Macht der ‚Menschlichkeit‘ im Herzen aller Welt so groß, so stark geworden ist, daß ein Christenpriester einen Heidenpriester segnen darf, ohne darob selbst
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