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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden
Autoren: Karl May
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ihre Lippen. Das erlöste ihn von den Augen seines Gegenübers. Er konnte den Blick von ihm losreißen und auf seine Tochter richten.
    „Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!“ hauchte er, tief, tief Atem holend. „Das war grad noch zur rechten Zeit; ich hörte dich kaum mehr, so weit war ich schon fort, wieder fort, in die Heidentempel hinein. Schon hörte ich es wieder knistern und brennen. Da riefst du mich zurück, du Seele deiner Mutter! Ich bin wieder da, bei dir. Aber es packt mich jemand an. Es ist wie eine Faust, die mir im Kopf wühlt, um meine Gedanken, die richtig sind, mit falschen zu vertauschen! Ein fremder, und mir aber doch nur zu gut bekannter Geist!“
    Er sprach die letzten Sätze lauter als die ersten. Dilke hörte sie und rief ihm zu:
    „Ein Geist? Du Narr! Der Glaube ist es, der Glaube, den deine Ahnen dir hinterlassen haben, damit die Heidenwelt durch ihn bezwungen werde. Bist du ein Mann und hast du Mut, so bekenne ihn. Ich frage dich: Bist du ein Waller oder nicht? Leben oder Tod – – –? Seligkeit oder Verdammnis – – –? Wähle!“
    „Ich bin ein Mann“, antwortete Waller. „Ich fürchte mich nicht – nicht vor dir und will – will – – will – – –“
    Er wurde irr. Er vergaß, was er hatte sagen wollen. Das war der entscheidende Augenblick. Von drüben schauten zwei scharfe, stechende, diabolisch funkelnde Augen zu ihm herüber, die ihn wieder packen und fassen sollten, um ihn festzuhalten, fest! Da kam die Rettung: Tsi flüsterte ihm zu:
    „Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein! Besinnt Euch Sir; besinnt Euch! Wißt Ihr es noch, wie das beginnt?“
    „Ja – ja – ich weiß es – weiß, weiß es noch! Eben, eben kommt es mir!“ antwortete Waller, indem sein Gesicht wieder Seele, wieder Spur von Geist, wieder selbständigen Ausdruck bekam. „Der Anfang ist: Tragt Euer Evangelium hinaus!“
    Da forderte ihn Tsi mit lauter Stimme auf:
    „So werft es ihm doch hinüber! Schleudert ihm diesen Felsen zu, damit er ihn zerschmetterte!“
    Da richtete Dilke sich so hoch wie möglich empor, breitete die Arme aus, ballte die Fäuste und schrie herüber:
    „Ja, wirf, du Knirps, du Sklave deiner ‚Shen‘, die nichts als quieken kann, wenn starke Geister sprechen! Wirf zu, wirf zu; dann aber faß ich dich!“
    Da griff Waller mit der Linken nach der Hand seiner Tochter, breitete die Rechte aus, zum Zeichen, daß er sprechen werde, und begann:
    „Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden.
Gebt, was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit;
Das andre alles sei daheim geblieben.
Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt,
Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.“
    Er hatte fast schüchtern und mit unsicherer Stimme begonnen, doch nach und nach klang es immer bestimmter und klarer. Und das war es ja, was Tsi bezweckte. Grad an der Hand dieser Strophen hatte Waller sich während seiner langen Krankheit aus der Tiefe emporgefunden, zwar langsam, langsam, aber doch. Jetzt, da er wieder sinken sollte, jäh und schnell, im Sturz, war Tsi überzeugt, daß sie sich abermals bewähren würden, vielleicht noch mehr und besser als in der Langsamkeit. Es war auch ganz eigen, was für eine Veränderung mit ihm vorging, während er diese acht Zeilen sprach. Er streckte sich; er schien höher zu werden. Er lag nicht mehr so schwer an meinem Körper, sondern er wurde leichter, von Zeile zu Zeile leichter, also kräftiger. Der Geist hatte sich nicht nur am Rande des Abgrundes festgehalten, sondern er nahm auch schnell die Herrschaft über den Körper zurück und verlieh ihm Kraft zum ferneren Widerstand.
    Ganz anders war das Bild, welches sich da drüben ergab, wo der Gegner stand. Er hatte seine herausfordernde Pose nur bis zum Wort ‚Völkerfrieden‘ beibehalten. Bei den Worten ‚bringt nur Liebe mit‘ ließ er die ausgebreiteten Arme nieder. Die Gestalt sank zusammen. Die Gesichtszüge begannen sich zu verzerren. Und bei den letzten Worten ‚nun ewig weiter lieben‘ zog er die Schultern wie unter Schmerzen in die Höhe, fuhr sich mit den Händen nach den Ohren und rief:
    „Lieben, lieben, lieben und nur immer lieben! Das ist ja eben die ‚Shen‘, die ‚Shen‘, die ‚Shen‘! Ich höre sie schon von weitem, die Pfeifen, diese verdammten, verdammten Pfeifen! Verflucht sei dieses Gequieke, dieses ewige, unendliche Gequieke von Liebe, von Liebe, von
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