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Eine Nacht zum Sterben

Eine Nacht zum Sterben

Titel: Eine Nacht zum Sterben
Autoren: Jack Higgins
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    Es gab Zeiten, da fragte sich Jean Mercier, was das Leben für einen Sinn hatte; in dieser Nacht war es wieder einmal soweit. Irgendwo in der Dunkelheit weit vor dem Schiffsbug lag eine Küste, die er nicht erreichen konnte, lauerten Gefahren, die er nur ahnen konnte; sie fuhren ohne Navigationslampen, und das machte die Sache auch nicht besser.
    Ein eisiger Wind wehte im Golf von St. Malo; er kam von weit her aus dem russischen Ural, trieb Schaumkronen auf die Wellen und warf Gischt gegen die Windschutzscheibe der Steuerkabine. Mercier drosselte die Maschine und drehte das Steuerrad auf Kurs. Er starrte in die schwarze Dunkelheit, um das Lichtsignal nicht zu verpassen, das er herbeisehnte wie ein Zeichen des Himmels.
    Mit einer Hand rollte er sich ungeschickt eine Zigarette; seine Finger wollten nicht aufhören zu zittern. Er war todmüde, ihm war kalt, und er hatte furchtbare Angst, aber er bekam gutes Geld, bei Ablieferung alles bar auf die Hand und dazu noch steuerfrei – mehr als er mit der Fischerei in drei Monaten verdienen konnte. Wenn ein Mann eine kranke Frau im Haus hatte, mußte er zufrieden sein mit dem, was kam; da durfte er sich über den Job keine großen Gedanken machen.
    Ein Lichtzeichen leuchtete dreimal kurz auf und verlöschte so schnell, daß er sekundenlang dachte, er hätte es sich nur eingebildet. Er fuhr sich mit der Hand über seine angestrengten Augen, und dann war es wieder da. Noch ein drittes Mal sah er es aufleuchten; er döste einen Moment, dann riß er sich zusammen und stampfte kräftig auf den hölzernen Boden der Steuerkabine. Auf der Kabinentreppe hörte man Schritte, und Jacaud erschien.
    Er hatte wieder getrunken, und Mercier wäre fast schlecht geworden von seinem übelriechenden sauerscharfen Atem in der reinen Salzluft. Jacaud schob ihn zur Seite und übernahm das Steuer.
    »Wo war es?« brummte er.
    Das Lichtzeichen gab ihm Antwort; es lag ein paar Strich Backbord voraus. Er nickte, brachte die Maschine auf volle Touren und drehte das Steuerrad. Die Barkasse beschleunigte schnell. Er nahm eine halbvolle Flasche Rum aus der Tasche, trank den Rest in einem einzigen Zug und warf die leere Flasche durch die offene Kabinentür. In dem schwachen Licht des Kompaßhäuschens sah es aus, als ob sein Kopf körperlos durch die Dunkelheit schwebte wie in einem makabren Film. Er hatte ein animalisches Gesicht; es sah aus wie ein Untier auf zwei Beinen mit seinen winzigen Schweinsaugen, der Plattnase und Gesichtszügen, die durch jahrelanges Trinken und Krankheiten grob und gemein geworden waren.
    Mercier erschauderte; ein Zittern lief durch seinen ganzen Körper, und Jacaud mußte grinsen. »Angst hast du gar nicht, Kleiner, was?« Mercier gab keine Antwort, und Jacaud packte ihn an den Haaren. Eine Hand behielt er am Steuer. Mercier schrie auf vor Schmerz. Jacaud lachte.
    »Bleib du nur immer ängstlich, so gefällst du mir. Und nun verschwinde und mach das Beiboot klar.«
    Er gab ihm einen wuchtigen Stoß durch die offene Tür, und Mercier mußte nach der Reling greifen, um nicht über Bord zu gehen. Die Wut trieb ihm Tränen in die Augen; er tastete sich auf dem stockdunklen Deck entlang; neben dem Beiboot kniete er sich hin. Er zog ein Klappmesser und zerschnitt die Leine, an der das Boot festgemacht war. Mit dem Daumen fuhr er über die scharf geschliffene Klinge und dachte an Jacaud. Ein gutgezielter Hieb würde genügen, aber schon bei dem Gedanken krampfte sich sein Inneres zusammen, und er ließ das Messer zuschnappen, rappelte sich hoch und stellte sich an die Reling.
    Die Barkasse machte volle Fahrt, und in der Dunkelheit leuchtete wieder das Lichtzeichen auf. Jacaud stellte den Motor ab; sie wurden langsamer und trieben mit der Breitseite auf die Küste zu, die jetzt durch die phosphoreszierende Brandung in rund hundert Metern Entfernung zu erkennen war. Mercier warf den Anker, und Jacaud kam hinzu. Er hob das Boot mit seinen kräftigen Armen über die Reling, ließ es zu Wasser und hielt es an der Leine fest.
    »Rüber mit dir«, sagte er ungeduldig. »Ich will hier schnell wieder weg.«
    Wasser war in das Boot geschlagen; es war feucht, kalt und ungemütlich. Mercier nahm die beiden hölzernen Riemen und ruderte los. Die Angst überkam ihn wieder wie schon so oft in diesen Tagen; denn er wußte nicht, was ihn am Strand erwartete; der Strand war ein unbekanntes Territorium für ihn, obwohl er ihn schon oft genug unter denselben Umständen betreten hatte. Immer war
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