Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu
Autoren: Manfred Weinland
Vom Netzwerk:
noch komischere Fragen gestellt.
    »Ein was ?« Lobsang hatte mit den Augen gerollt.
    »Ein Buch«, blieb Graulicht geduldig. »Ich hab's im Wald gefunden.«
    »Glaub ich nicht. Wie sollte es da hinkommen?«
    »Es war vergraben.«
    »Du sagst, es stammt von der Erde?«
    »Kann ich beweisen. Steht nämlich drin. Gleich, wenn man's aufklappt. Und es ist Jahrhunderte alt!«
    Graulicht hatte den ein halbes Marsjahr jüngeren Lobsang am Ärmel seiner Jacke gepackt und hinter sich hergezogen bis zu der Stelle, wo er seinen Schatz verwahrte.
    Schon die silbern glänzende Metallbox zauberte ein begehrliches Funkeln in Lobsangs Augen. Graulicht ließ die Verschlüsse des Behältnisses mit dem eingestanzten Schriftzug »BRADBURY« genüsslich grinsend aufschnappen, tat so, als würde er den Deckel zu Lobsang hin anheben, patschte dann aber im letzten Moment mit der flachen Hand darauf und lachte. »Hättest du wohl gern. Was gibst du mir, wenn ich's dir zeige? Du darfst es sogar anfassen .«
    »Wow. Zu viel der Ehre.« Lobsang verzog gespielt beleidigt das streifenförmig pigmentierte Gesicht.
    Sofort erinnerte sich Graulicht an das Gelesene, das sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Jede Zeile, jede geheimnisvolle Beschreibung und Episode. Er wusste nicht, wie oft er das Buch verschlungen hatte. Es erzählte von einem anderen Mars als dem, auf dem Graulicht aufgewachsen war und tagein, tagaus lebte. Fast unmerklich - von Lektüre zu Lektüre - war schließlich seine Sicht der Welt eine andere geworden.
    Natürlich wusste er, dass das, was in dem Buch zu lesen stand, erfunden war. Aber ihm ging es auch gar nicht um den Wahrheitsgehalt.
    Behutsam, als handele es sich um etwas Zerbrechliches, legte er das Buch neben sich aufs Bett. Der Einband war speckig und abgewetzt, vielfach war die Farbe abgeblättert.
    Graulicht wünschte sich oft, dem Autor einmal zu begegnen. Wie schade, dass dieser Ray Bradbury vermutlich niemals auf einem Flug über die Ozeane der Erde den Weg des Zeitstrahls gekreuzt hatte. Denn dann hätte Hoffnung bestanden, wenigstens seine Blaupause zu finden und mit ihr -
    Stopp!
    Er spürte, wie das Unaussprechliche sich in seine Gedankenwelt zu stehlen versuchte. Und er ahnte auch, dass sein Wunschbild, das er damit in Zusammenhang brachte, nicht Ray Bradbury hieß.
    Er schüttelte mürrisch den Kopf, verärgert über sich selbst. Erst als das Buch, das er eben noch so sorgsam neben sich abgelegt hatte, in einem plötzlichen Zornesausbruch durch das Zimmer flog, gelang es ihm, die schädlichen Gefühle und Gedanken niederzukämpfen.
    Lobsang, der im anderen Bett schlief, wälzte sich nuschelnd auf die andere Seite. Wach wurde er nicht. Vielleicht hatte er etwas zu viel von dem schweren Marswein getrunken, dem Graulicht aus Prinzip gänzlich entsagte. Aber er gestand seinem Freund die kleine Schwäche zu.
    Momentan war er sogar froh darum.
    Es war späte Nacht. Vor etwa einer Stunde waren sie von ihrer Stadtexkursion zurückgekommen, bei der sie beide Zerstreuung gesucht hatten. Aber während Lobsang vor Müdigkeit und Alkoholgenuss die Augen sofort zugefallen waren, hatte Graulicht noch zu lesen begonnen. Eine der etwas längeren Geschichten, die er nichtsdestotrotz fast auswendig konnte. Scheint der Mond in heller Pracht.
    Beim Gedanken an den Titel wanderte Graulichts Blick durch das vorhanglose Fenster über die Stadt.
    Utopia war eine beeindruckende Ansammlung von Gebäuden, doch weit weniger prächtig als Elysium, in dessen Nähe sein Wald lag. Als er die Skyline der Hauptstadt zum ersten Mal aus der Ferne sah, hatte er kaum glauben wollen, dass Menschen - Marsianer! - diese kolossalen Gebilde erbaut hatten.
    Scheint der Mond in heller Pracht.
    Er lächelte. Wir haben zwei Monde, Ray , dachte er. Aber sofort verschwand sein Lächeln wieder und Unruhe überkam ihn, wenn er dorthin blickte, wo Wolkenkratzer den Blick auf das Heiligtum der Alten verstellten.
    Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, aufzustehen, sich etwas Warmes überzustreifen, das Haus zu verlassen und in den gemieteten Schweber zu steigen.
    Betroffen stellte er fest, dass er schwitzte und zugleich fröstelte. Seine Haut zog sich zusammen, er fing an zu zittern. Was war nur los mit ihm?
    Nein , dachte Graulicht. Ich muss damit aufhören. Es… tut mir nicht gut. Überhaupt nicht gut…
    ... an sie zu denken.
    Ohne dass er es verhindern konnte, tauchte ihr Bild vor seinem geistigen Auge auf. Er brauchte nicht einmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher