Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu
Autoren: Manfred Weinland
Vom Netzwerk:
Hinterlassenschaft der Alten, über der sich in den Jahrmillionen eine marode Schale gebildet hatte, war eingebrochen, und das nachrutschende Erdreich hatte Graulicht wie Treibsand in die Tiefe gerissen.
    Anstatt ins Dorf zu laufen und so wertvolle Zeit zu vergeuden, hatte Lobsang mit bloßen Händen nach dem Freund gegraben… und ihn tatsächlich in nur zwei Metern Tiefe gefunden, wo er sich zwischen Wurzeln verfangen hatte.
    Seit diesem Tag war Graulicht seinem Freund stärker verbunden als den Mitgliedern seiner Familie.
    »Warst du überhaupt im Strahl?«, wollte Lobsang etwas später wissen, als sie beim Essen zusammensaßen.
    Graulicht schluckte die zerkaute Jagwurzel, die mit einer Panade aus Seltenmoos überzogen und knusprig angebraten war, herunter und antwortete: »Ja. O ja.«
    »O ja?« Lobsang hob zwischen zwei Bissen die Brauen. Das Muster seiner Gesichtspigmentierung verschob sich und verlieh ihm etwas Katzenartiges.
    Graulicht legte das Besteck beiseite und schob den halb vollen Teller von sich. »Ich wünschte, ich wüsste, was passiert ist. Irgendetwas ist passiert - etwas Verstörendes, mit dem ich so nicht gerechnet hatte. Aber es in Worte zu fassen…« Graulicht schüttelteden Kopf. Dann, plötzlich, hellte sich seine Miene ein wenig auf. »Warte. Vielleicht… vielleicht kann ich dir zeigen, was war. Was ich fand…«
    Täuschte er sich, oder sah Lobsang ihn erschrocken, beinahe entsetzt an? Graulicht ahnte nicht, welch fanatischer Glanz sich in diesem Moment über sein Gesicht gelegt hatte.
    »Grau, du -«
    Aber er war schon fest entschlossen, es zu probieren.
    ***
    Lobsang war kein Weltenwanderer, und die Fähigkeiten seines Geistes, was übernatürliche Leistungen anging, waren mit denen Graulichts nicht einmal ansatzweise vergleichbar. Im Wald war lange Zeit sein Bestreben gewesen, ein Baumsprecher zu werden. Doch dann hatte er seine wahre Berufung gefunden: Er war weniger zum Sprecher als zum Zuhörer geboren. Die Menschen aus seiner Familie und Bekanntschaft waren die Ersten gewesen, die sein Talent erkannten. Die ihm ihr Herz ausschütteten, damit er ihnen durch bloßes Zuhören dabei half, Auswege aus ihrer persönlichen Zwickmühle zu finden.
    Früher als alle anderen hatte Lobsang auch gewusst, wohin Graulichts Weg führen würde. Und er hatte getan, was in seinen bescheidenen Kräften stand, um den Freund zu unterstützen. Wann immer er zum Mie-Krater aufbrach, leistete Lobsang ihm Chauffeurdienste. Stets war es ihm Lohn genug gewesen, hinterher Graulichts Schilderungen seiner Erlebnisse im Strahl lauschen zu dürfen.
    Jetzt aber veränderte sich der Freund vor Lobsangs Augen. Seine Mimik wurde starr und dazu fast wie die eines Fremden. Es war die Art, wie Graulicht ihn plötzlich anschaute, die es Lobsang kalt den Rücken hinunter rinnen ließ.
    »Grau, du -«
    Weiter kam er nicht. Weil es ihm den Atem verschlug.
    Graulicht verschwand wie ein Spuk und nahm gleich auch den Raum samt Einrichtung mit, von einem Wimpernschlag zum anderen auf. An seine Stelle trat…
    Ohne dass es Lobsang bewusst wurde, löste sich ein weinerlicher Ton von seinen Lippen. Tief im Herzen war er plötzlich wieder zwei Jahre alt(Marsjahre; auf der Erde wäre er 4), und so wie ihn damals unbekannte Dinge erschreckt hatten, so ängstigte ihn jetzt die Kulisse, die Graulicht um ihn herum errichtete.
    Zwielicht herrschte. Seltsame, unheimliche Objekte gewannen um ihn herum an Kontur, und es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, wohin der Freund seinen Geist entführt hatte: an jenen Ort, von dem er selbst vollkommen verstört zurückgekehrt war.
    Lobsang hatte kein Verlangen zu erfahren, wie Graulicht es anstellte, ihm vor das geistige Auge zu führen, was er selbst erlebt hatte. Mit hämmerndem Herzen gab er sich dem Schauspiel hin. Und Graulicht leitete ihn an unsichtbarer Hand durch das Labyrinth des Unbekannten…
    ... bis hin vor die geschlossenen Augen eines wunderschönen Wesens.
    ***
    »Du hast sie gesehen - was sagst du?«
    Lobsang betrachtete seinen Freund mit mehr Skepsis als in all den Jahren zuvor. »Die Frau?« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss erst mal verdauen, was gerade passiert ist… Hey, ich wusste nicht, dass du dazu in der Lage bist. Was ich gesehen habe, waren deine Erinnerungen an den letzten Besuch im Strahl, richtig?«
    Graulicht nickte. Er wirkte angespannt und ungeduldig. »Sie ist wunderschön, oder nicht, Lob? Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so perfekt war…«
    Nun
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher