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256 - Der König von Schottland

256 - Der König von Schottland

Titel: 256 - Der König von Schottland
Autoren: Mia Zorn und Christian Schwarz
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Passagiere, deren Gesichter nun ins Groteske verzerrt sind, mit dem Finger auf mich, jeder einzelne ein unübersehbares Zeichen meines Versagens. Doch keine dieser Mini-Lanzen durchbohrt mein Herz so, wie Majelas stummer, anklagender Blick es tut.
    Sag etwas! Bitte! Schrei deine Anklage hinaus! Beschimpfe mich! Brüll mich an! Das alles könnte ich eher ertragen als dieses furchtbare Schweigen!
    Noch immer rast der Zug auf mich zu. Weinkrämpfe schütteln mich, ich sinke auf die Knie. Erneut winkt Majelas Hand, so als würde sie sich mit einem letzten Gruß verabschieden wollen, bevor sie die lange Reise in die Finsternis antritt.
    Die Front der Lok ragt nun wie ein mächtiges Stahlgebirge vor mir auf.
    Gleich ist es so weit, gleich kommt der dumpfe Schlag, der mich Majela ins Reich der Schatten folgen lässt. Ich empfinde Erleichterung. Zumindest das. Denn für Versager wie mich hat diese Welt keinen Platz.
    Die Angst fällt mich erneut an wie ein wildes Tier, als plötzlich nicht mehr Majelas Körper vor der Lok hängt, sondern der von Lazarus. »Du wirst nicht ihr, sondern mir in die Finsternis folgen!«, brüllt er. »Dort werde ich ewige Qualen für dich bereithalten, Jed Stuart. Menschen, die so schwach und naiv sind wie du, haben kein anderes Schicksal verdient!«
    Die Front der Lok hat gleichzeitig ein neues Gesicht bekommen. Majelas Gesicht! Stumm starrt sie mich an.
    Gleich kommt der Aufprall.
    Jetzt!
     
    Mit einem Schrei fuhr Jed Stuart aus dem Schlaf hoch. Sein Herz pochte wie wild, sein Körper stand derart unter Schweiß, als käme er gerade aus dem Dampfbad. Schlafhemd und Unterhose klebten an ihm; er hätte beides sicher problemlos auswringen können. Doch er tat nichts gegen das unangenehme Gefühl. Ein Versager wie er musste sich nicht wohl fühlen, es stand ihm nicht zu.
    Fast eine Minute starrte Stuart mit aufgerichtetem, angespannten Oberkörper in die Finsternis seines Zimmers im Londoner Community-Bunker. Erst dann kam wieder so etwas wie Ordnung in sein aufgewühltes Inneres. Doch die Bilder des gar nicht so wirren Albtraums wollten einfach nicht weichen.
    Majela Ncombe hatte sich schon länger nicht mehr in seine Träume geschlichen. Ein gutes halbes Jahr nicht. Fast schon hatte er geglaubt, dass sie nun endlich ihren Frieden gefunden hatte. Vor allem ihren Frieden mit ihm.
    Doch nun war sie aus dem Jenseits zurückgekommen. Mit einer neu zusammen gewürfelten Version jener schrecklichen Ereignisse in Ruland, die sie das Leben gekostet hatten. [2]
    Immer wenn sie bisher in Stuarts Träumen erschienen war, hatte sich ihm das Geschehen anders dargestellt. Nur zwei Dinge blieben gleich: Das Ergebnis, in das besagtes Geschehen mündete, nämlich Majelas Tod. Und die stumme Traurigkeit, mit der ihn die größte Liebe seines Lebens marterte.
    Ihm war bewusster als je zuvor, dass es keinen Frieden mit Majela geben würde.
    Niemals!
    Zu schwer war die Schuld, die er auf sich geladen hatte.
    Gut so, Majela. Typen wie ich haben keine Absolution verdient.
    Stuart seufzte schwer. Ständige Adrenalinstöße peinigten ihn. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und stand auf. Zuerst schüttete er einen Liter Wasser in sich hinein und duschte dann.
    Majela war fast so präsent, als seifte sie ihm den Rücken ein, denn er bekam ihr Gesicht nicht mehr aus dem Kopf, egal, mit was er sich auch abzulenken versuchte. Und vor ihr Gesicht drängten sich all die Bilder, die die einst heile Welt des Jed Stuart vernichtet hatten; seine Traumwelt, in der sich Naivität und wunderschön ausformulierte Theorien die Klinke in die Hand gegeben hatten, weit weg von dem, was die rohe, raue, brutale, die wahre Welt eben ausmachte.
    O ja, Jed Stuart wusste mittlerweile genau, was für ein Idiot er eigentlich war. Majela erinnerte ihn durch ihr Auftauchen immer wieder daran und er nahm es durchaus als gerechte Strafe an.
    Die Bilder, sie peinigen ihn nun wieder unaufhörlich.
    Wir sind von Moska mit dem Zug nach Kiiv unterwegs, um die dortigen Technos vor den Daa'muren zu warnen. Pjootr, der Besitzer des Zuges, hat einen Heiligen Mann der Tshingii, eines verfeindeten Reitervolkes, gefangen und bindet ihn immer vorne auf die Lok, wenn der Zug durch Tshingii-Gebiet fährt. Der Heilige Mann ist in Wirklichkeit ein größenwahnsinniger Amerikaner, ein Landsmann, ein Teilnehmer der verschollenen Kratersee-Expedition von 2501, die Colonel Arthur Crow einst losgeschickt hatte, um den Ort zu finden, an dem der Komet eingeschlagen
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