Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
Vom Netzwerk:
wie Marcuse sich hinter seiner Trennwand duckt und auf die Demütigung wartet, aber Slattery ist zu dankbar, zu erleichtert für solche Spielchen. Langsam verlässt er das Großraumbüro, lässt die Hysterie hinter sich und geht zur anderen Seite des Gebäudes hinüber, zu den nach Osten liegenden Fenstern. Brooklyn ist hinter hohen Häuserreihen verborgen, aber Slattery weiß, dass es dort draußen auf der Lauer liegt. Er schließt die Augen und küsst das Tafelglas.

3
    »Die Türken pflegten ihren Kriegsgefangenen Körbe aus Metall im Schritt festzubinden. Mit einer lebendigen Ratte im Korb. Kannst du dir das vorstellen? Was macht so eine Ratte dann? Sie frisst sich ihren Weg in die Freiheit, frisst sich durch Hodensack, Muskeln, Fettgewebe. Stell dir vor, wie sie dann dem Gefangenen aus dem Bauch rausguckt, ganz glitschig von seinen Eingeweiden. Stell dir das bloß vor.« LoBianco lacht. »Mit den Türken hat niemand einen Krieg riskiert.«
    Jakob schreibt mit roter Tinte eine 73 auf einen Vokabeltest und überträgt die Zahl in sein Zensurenbuch. Er sieht auf die Uhr, schiebt die Kappe auf den Stift, sammelt seine Bögen ein und dreht sich zu LoBianco herum, der am anderen Ende des Lehrerzimmers neben einer nicht eingeschalteten Lampe sitzt, die grauen Haare fast bis zum Schädel abgeschoren, die langen Ohrläppchen wie Tropfen über seinen schmalen Schultern. Auf der Pinnwand hinter ihm lauter Ankündigungen: Fachbereichskonferenzen, Aufsichtsverteilung für die Disco und die Busabfahrten, der wöchentliche Speiseplan.
    »Wieso sitzt du denn im Dunkeln?«, fragt Jakob.
    »Damit ich nicht lesen kann«, erwidert LoBianco und schwingt einen Packen Prüfungsarbeiten. »Noch ein einziger Absatz über den Heroismus des Atticus Finch, und ich kriege ein Aneurysma.« Er seufzt. »Seit dreißig Jahren unterrichte ich dieses Buch jetzt. Ich würde der Harper Lee gern die Türken auf den Hals hetzen. Das wär ein Anblick. Für Frauen hatten sie bestimmt Spezialtechniken.«
    Jakob fährt mit einem ungepflegten Fingernagel die Rippen des beigefarbenen Cordsofas entlang. Er hat den alten Tweed-Blazer seines Vaters an, eine Nummer zu groß, die Ellbogen mit Kreidestaub gestreift. Dreißig Jahre, denkt er. Dreißig Jahre, aufgeteilt in Trimester und Ferien, dreißig Jahre Cafeteria-Menüs und schlechter Kaffee, Nachsitzen und Lehrerkonferenzen. Ein Leben, gegliedert in die Unterrichtsstunden Eins bis Acht.
    Vor dem Lehrerzimmer schrillt die Klingel los, und auf einmal birst das Schulgebäude von Lärm, vom Trommeln der Stiefelabsätze auf dem Linoleum, vom Radau der Jungen auf der Treppe, von einem Mädchenchor im Gang, der den Titelsong einer Sitcom schmettert.
    »Hör nur«, flüstert LoBianco. »Die kleinen Monster sind frei.«
    »Sag mir doch noch mal, warum du Lehrer geworden bist. Wie steht's damit, Anthony?«
    »Wegen der vielen Möglichkeiten, Kinder zu belästigen.«
    Jakob lacht und schüttelt den Kopf. »Als Schüler hab ich mich immer gefragt, worüber ihr hier drin wohl so redet. Über ganz tiefsinnige Sachen, dachte ich. Poesie. Wenn Deering diesen Witz gehört hätte...« Er deutet mit dem Finger eine durchschnittene Kehle an.
    »Die können mich gar nicht rausschmeißen. Ich bin der einzige hier, der Grammatik unterrichten kann.«
    Die Tür geht auf, und eine Schülerin steckt den Kopf ins Zimmer. Ihre Augen sind schwarz gerändert. »Hey, Elinsky. Ich muss mit Ihnen reden.«
    »Haben Sie ein Klopfen gehört, Mr. Elinsky?«
    »Aber ganz gewiss nicht, Mr. LoBianco«, antwortet Jakob.
    »Miss D'Annunzio, Sie sind nicht zum Eintreten aufgefordert worden. Bitte gehen Sie wieder.«
    »Oh, Mann.« Die Tür fällt ins Schloss. Klopf, klopf, klopf.
    »Wer ist da?«, fragt Jakob.
    »Mary.«
    »Mary wer?« Stille. Jakob seufzt. »Mit Pointen hat sie's nicht so. Kommen Sie rein.« Mary betritt das Zimmer und steht mürrisch da. »Ach, Mary D'Annunzio. Was für eine nette Überraschung.«
    »Haben Sie einen Moment Zeit, Elinsky?« Sie sieht zu LoBianco hinüber, der sich übertrieben räuspert. Sie verdreht die Augen. »Mr. Elinsky?«
    Jakob steht lächelnd auf. »Aber ja, selbstverständlich. Worum geht's denn?«
    »Ich wollte Sie etwas fragen.«
    »Gut. Dann gehen wir mal in mein Büro. Mr. LoBianco, eine Tasse Kaffee, in einer halben Stunde?«
    »Sagen wir in einer Stunde, Mr. Elinsky. Ich muss mit Mr. Deering sprechen.«
    Jakobs Büro besteht aus einem Klassenzimmer, das er sich mit einem anderen Lehrer teilt. Unter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher