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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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wesentlich leichter, über die Trennwand zu setzen, ihn bei der Kehle zu packen und Respekt zu verlangen. Ein bisschen Gewalttätigkeit, um den Druck des zivilisierten Benehmens zu mildern, mehr nicht.
    Slattery hat so seine Schwierigkeiten mit dem Loslassen. Nachts träumt er oft davon, sich für tatsächliche oder eingebildete Demütigungen zu rächen, und wacht dann mit einem Gefühl von Befriedigung, von ausgleichender Gerechtigkeit auf, nur um feststellen zu müssen, dass der Ausgleich nur im Traum stattgefunden hat, die Missetaten noch ungesühnt sind. Die Missetaten der Männer, vor denen er den Schwanz eingezogen hat. Einmal war er kurz vor der Polizeistunde noch am Trinken, und ein Rausschmeißer sagte: »Feierabend. Raus.«
    »Ich trink bloß noch eben mein Bier aus.«
    Der Rausschmeißer schlug Slattery das Glas aus der Hand.
    »So. Ausgetrunken.« Zwei andere Packer kamen herüber, bauten sich neben ihrem Kollegen auf.
    »Scheiße, was soll das denn?«, fragte Slattery.
    »Tu was dagegen«, sagte der Rausschmeißer. Slattery tat nichts dagegen. Er verließ die Kneipe und ging nach Hause und verflucht sich noch heute dafür.
    Oder der Mann mit dem irren Blick in der Linie R, der losgeschimpft hat, als Slattery ihm auf den Fuß getreten ist. Slattery entschuldigte sich prompt, aber der Mann stieß ihm das feucht glänzende Gesicht entgegen. »Willst du dich mit mir atilegen, du Sackgesicht? Willst du dich mit mir atilegen ?« Slattery hat sich umgedreht und ist weggegangen, und der Mann hat ihm höhnisch nachgerufen: »Hab ich's mir doch gedacht, du Sackgesicht. Mach bloß, dass du wegkommst!«
    Das ist jetzt zehn Jahre her. Damals ist Slattery siebzehn gewesen. Jeder vernunftbegabte New Yorker hätte sich einer solchen Auseinandersetzung entzogen - prügle dich nie in der U-Bahn; prügle dich nie mit einem Verrückten -, aber seine Vernunft kann Slattery nicht trösten. Im Kopf spielt er die Begegnung immer wieder durch und denkt sich die perfekte Antwort aus — den perfekten rechten Haken, den perfekten Double-leg Takedown, den perfekten Kopfstoß. Aber der Mann mit dem irren Blick ist weg, ist nicht mehr zu kriegen.
    Was Slattery gern hätte, wäre ein auf Beton gemalter Ring mitten in der Pampa. Wo es weit und breit keine Zuschauer gibt, nur ihn und die grinsenden Dämonen. Dann könnte er sich einen nach dem anderen vornehmen — den Rausschmeißer, den Irren in der U-Bahn, alle — und sie in Grund und Boden stampfen oder die Kämpfe vielleicht sogar verlieren, aber mit Würde, und sich so den Respekt all derer verdienen, die ihm keinen hatten zollen wollen. Ich will Frieden, denkt er sich spät in der Nacht. Frieden will ich. Und dann träumt er von Faustkämpfen.
    Selbst in der kühlen, sterilen Umgebung der Bankbüros stören diese Gewaltfantasien seine Konzentration. Mit einer Willensanstrengung kehrt er wieder zu den Zahlen zurück, den endlosen Kursen und Chiffren abstrahierten Geldes. Man arbeitet die Chancen aus, berechnet die Wahrscheinlichkeiten, man knobelt und kniffelt — und vergisst allmählich die schiere Größe der Transaktion, vergisst, dass jedes bruchteilhafte Auf oder Ab ein Landhaus an den Klippen von Englewood ausmacht. Slattery hat keine Zeit für solche Erwägungen. Wenn man erst anfängt, die Größe des Waldes zu bestaunen, wird man garantiert von einem fallenden Baum erschlagen; auf den falschen Blickwinkel steht die Todesstrafe.
    Slattery begreift sich als Kodeknacker, verbringt seine Stunden mit dem Entziffern der endlos durchrollenden Informationen. Marktentwicklung, Inflationsrate, Erwartungen der Wirtschaftsinstitute, Ankündigungen von Politikern, Bestandsaufnahmen, Wetterbedingungen, Veränderungen im Konsumverhalten — für die Ermittlung des Ergebnisses ist nichts unwichtig. Wie ein Kabbalist sorgfältig die Mosebücher studiert, voller Gewissheit, dass sich in jedem einzelnen Buchstaben eine Welt von Prophezeiungen eröffnet, so genau prüft Slattery seine persönliche Textauswahl. Er weigert sich zu glauben, dass jede abweichende Interpretation der Zahlen begründet sein könnte. In seine Berechnungen, seine Formeln, seine feinsinnige Methode selbst erdachter Vorhersage ist niemand eingeweiht.
    Phelan, ein Neuer und gerade mal acht Monate vom College weg, kommt mit einem Becher Kaffee vorbei und wedelt mit einem Fax. »Bei Sollie rechnen sie mit einer Riesenzahl, zweihundert, vielleicht zweihundertzwanzig. Ist grad reingekommen.«
    »Scheiß auf Sollie«, sagt
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