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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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schmutzig kommt er sich trotzdem vor, ein alter Perversling, der Schulmädchen hinterherhechelt. Mit sechsundzwanzig schon ein alter Perversling.
    »Manchmal betrinken die Leute sich, weil sie an etwas nicht denken wollen. Aber«, fügt er hinzu, um nicht wie ein Fürsprecher des Alkoholmissbrauchs zu klingen, »das funktioniert nicht. Die Sache, an die man nicht denken möchte, ist am Ende die einzige Sache, an die man überhaupt denken kann, nur dass man dann schon fast verblödet ist.« Jakob nickt zweimal, um die Folgerichtigkeit seiner Ausführungen zu unterstreichen, und bemüht sich dann, sich zu erinnern, was er gerade gesagt hat.
    »Kann sein«, sagt Mary. »Der Punkt ist, diese Story ist gut. Vielleicht ist sie nicht perfekt, aber sie ist besser als alles, was die anderen vorgelegt haben.«
    Jakob schaut auf Marys schmale Handgelenke hinab, um das eine schlingt sich eine auftätowierte Rosengirlande.
    »Was hat Ihre Mutter gesagt, als Sie damit angekommen sind?«
    »Als ich womit angekommen bin?«
    »Mit Ihrer Tätowierung«, sagt Jakob und zeigt darauf.
    Mary betrachtet einen Moment lang ihr Handgelenk. »Sie hat gesagt: › Woher hattest du das Geld dafür?‹«
    »Oh. Und?«
    »Und was habe ich gesagt oder wo hatte ich das Geld her?«
    »Na ja, was Sie gesagt haben, würd ich meinen.«
    »Ich hab gesagt, der Typ hat's umsonst gemacht.«
    »Und? Hat er?«
    »Nein. Warum wollen Sie das überhaupt wissen?«, fragt sie, eher sauer als misstrauisch.
    »Reine Neugierde.«
    »Dann werden Sie die Note also nicht raufsetzen?«
    Jakob schüttelt den Kopf. »Nein, werde ich nicht.«
    »Klasse.«
    Sie steht auf und schiebt sich eine schlaffe Haarsträhne aus der Stirn. »Was für 'ne Zeitverschwendung.«
    »Hören Sie, wollen wir nicht lieber über die eigentliche Story reden, anstatt uns nur über Ihre Note zu streiten? Haben Sie sie dabei? Ich zeig Ihnen, was daran meiner Meinung nach nicht funktioniert, und Sie können...«
    »Ich hab Probe«, sagt sie und stampft aus dem Klassenzimmer. Jakob lauscht den leiser werdenden Tritten ihrer Kampfstiefel.
    Diesem Mädel, denkt Jakob und starrt dabei auf seine ungeschickten Kritzeleien an der Tafel, sollte man einmal ordentlich den Hintern versohlen. Die ungehörige Vorstellung lässt ihn grinsen.
    Eine Stunde später sitzt er neben LoBianco auf einem Barhocker und bläst über die Schaumkrone auf seinem Glas Bier. Sie befinden sich in einer der letzten klassischen Kneipen der Amsterdam Avenue, komplett mit gefrosteten Fenstern, Kassettendecke aus Blech und einer Holzverkleidung, auf der sich der Zigarettenrauch von Jahrzehnten niedergeschlagen.hat. Frauen sieht man hier selten. Jakob nimmt an, dass die alten Männer ringsum allesamt schwul sind, aber nach einem Abschleppladen sieht die Kneipe nun gar nicht aus. Eher wie ein Wartezimmer, nur dass Jakob keine Ahnung hat, worauf sie warten.
    »Was ist heute für ein Tag?«, fragt er. »Donnerstag? Der Januar ist fast vorbei. Noch vier Monate bis Juni.« Jakob trägt eine abgewetzte Yankees-Mütze, an deren Schirm er immer wieder zieht wie ein Coach an der dritten Base, der einen Durchlauf signalisieren will.
    »Darauf trinken wir einen«, sagt LoBianco und nimmt einen ordentlichen Schluck von seinem Wodka mit Eis. »Jeder Tag bis zu den Großen ist ein Tag zu viel, hmm?«
    Früher hat LoBianco vielleicht einmal gut ausgesehen, aber damit ist es vorbei, dank Alkohol und lebenslänglich Klassenzimmer mit Kunstlicht. Sein Gesicht zeigt kaum einmal einen anderen Ausdruck als müde Verachtung, als hätte er gerade kräftig herumgeätzt oder wolle jeden Moment damit anfangen oder hätte gerade beschlossen, dass diese Dumpfbacken um ihn herum es überhaupt nicht wert sind, dass er über sie herzieht. Jakob denkt manchmal, der alte Bursche habe sich vor Jahren ab und zu vor den Spiegel gestellt und eine Bandbreite von Gesichtsausdrücken ausprobiert - abgrundtiefe Verachtung, kaum verhohlener Ärger, herablassende Belustigung -, und sich schließlich für müde Verachtung entschieden.
    Als ehemaliger Schüler von LoBianco weiß Jakob, wie einschüchternd dieser Ausdruck sein kann. LoBiancos Klassen zerfallen in zwei Lager: die schweigenden Massen, die zu viel Angst vor der Blamage haben, um den Mund aufzumachen, und die wenigen Mutigen, die sich melden und tapfer ihre Meinung über den jeweiligen Text zum Besten geben. Die größte Belohnung, mit der letztere rechnen können, besteht darin, dass LoBianco den Sprecher kurz ansieht,
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