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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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überhaupt nicht auf eine Pointe hinaus, stimmt7s?«
    »Das ist keine Geschichte« - LoBianco schnaubt - »das ist ein Haufen Schwulst. Und du sollst ihn dir einfach nur schweigend anhören. Wo war ich?«
    »Sokrates. William James. Philosophie-Vorlesung.«
    »Schwupps, sind wir also von seiner Analyse meines Versagens in Sachen Fachbereichsleitung bei einer ungekürzten Geschichte der Philosophie des Westens gelandet. Und ich sitz bloß da, mach ein höflich konzentriertes Gesicht, nicke ab und zu und sage: ›Verstehe‹ und ›Ja, das leuchtet ein‹. Deering hat meine stagnierende Karriere in einen angenehmen Blickwinkel gerückt. Der Trost der Philosophie vermutlich.« LoBianco runzelt die Stirn, wirft einen prüfenden Blick auf seine Fingernägel und säubert sie mit seinem abgebrochenen Cocktail-Schwert. »Ich hatte nie jemand werden wollen, der sich Cartoons aus dem New Yorker an die Bürotür pinnt. Aber genau das ist aus mir geworden. Hätte diese Schlampe Ferlinghetti mir nicht...«
    »Oh nein nein nein, jetzt fang nicht wieder...«
    »Dieser miese Dieb!«, brüllt LoBianco. »Hockt da in seinem berühmten Buchladen, der Weise von San Francisco, der letzte Beatnik-Dichter. Dichter? Dichter?«
    Das Leben des Anthony LoBianco zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er 1958 in der White Horse Tavem durch Lawrence Ferlinghetti um den wohlverdienten Ruhm gebracht worden ist. Wie es heißt, waren der junge Anthony und seine Kumpels gerade in jenem berühmten Etablissement am Trinken, als ihm Das Wort offenbart wurde. Und Anthony stürmte im Fieber der Inspiration durch die saufende Literatenschar, entriss einer entsetzten Bedienung Stift und Serviette und schrieb sie nieder, seine Epiphanie. Dann kehrte er, die Serviette im Triumph über dem Kopf schwenkend, zu seinen Zechgenossen zurück und verkündete: »Gentlemen, ich habe den Titel für mein Buch.«
    Am Tresen drehte sich ein Fremder herum und sagte ein wenig spöttisch: »Dann lassen Sie mal hören.«
    »Sir«, erklärte der junge Anthony stolz, »Ein Coney Island des inneren Karussells.«
    An den Rest der Nacht kann LoBianco sich nicht erinnern; wie es scheint, hatten ihn seine Freunde zur Feier seiner Genialität mit Whiskey abgefüllt. Am darauf folgenden Tag begann er mit der Arbeit an seinem epischen Gedicht, schrieb mehrere Monate lang wie in einem Rausch. Es ist sehr filmisch, wie LoBianco das erzählt, der Dichter im Unterhemd, unrasiert, hackt auf seiner mechanischen Schreibmaschine drauflos im vierten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl in der Avenue A, unterbricht nur mal für eine Zigarette auf der Feuertreppe, wo er zu den Saxophonklängen von gegenüber mit dem Kopf wippt, das alles in Schwarz-Weiß. Voll Jack-Kerouac-mäßig. Eines Morgens kehrt der Dichter mit einem Spinatkuchen vom Griechen und einer Zeitung in seine Wohnung zurück. Während er die staubigen Stufen hinaufsteigt, fällt ihm auf den Mittelseiten eine Schlagzeile ins Auge, die Besprechung eines neuen Gedichtbandes. Von Lawrence Ferlinghetti. Mit dem Titel Ein Coney Island des inneren Karussells. Der Dichter starrt auf den Artikel (Nahaufnahme Schlagzeile) und bricht auf dem Treppenabsatz zusammen. Das Saxophon klagt. Ende eines wundersamen Geschicks.
    Es ist die klassische Geschichte von bestrafter Hybris, von Göttern in Menschengestalt, und Jakob hört sie gem. Ansonsten krankt die Geschichte natürlich an einer schwerwiegenden Einzelheit - sie kann unmöglich stimmen. Jakob hat es einmal nachgeprüft und herausgefunden, dass Ferlinghetti den Titel aus einem Roman von Henry Miller hat, der Jahre vor dem denkwürdigen Abend in der White Horse Tavern geschrieben worden ist. Jakob lässt sich nie anmerken, dass er die Lüge durchschaut hat, zum einen weil er annimmt, dass LoBianco die Geschichte inzwischen selber glaubt und er den alten Herrn nicht quälen möchte. Zum anderen aber genießt Jakob sein geheimes Wissen. Es verleiht ihm Macht über seinen ehemaligen Lehrer. LoBianco, der sich in mancher Hinsicht so gewieft gibt, ist in anderer Hinsicht schlichtweg dumm, und seine Lügengeschichten strickt er bei weitem zu nachlässig. Jakob stellt sich LoBianco vor, geschlagen, der Vergessenheit überlassen, wie er einer übermannsgroßen Statue von Ferlinghetti mit der Faust droht. Himmel, Anthony, da hättest du aber einen besseren Dichter auftreiben können.
    »Weißt du, was mich tröstet«, fragt LoBianco, »wenn ich daran denke?«
    Jakob weiß es nicht.
    »Dem Kerl ist
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