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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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den Kopf. »Meine Kneipe? Zum Teufel mit meiner Kneipe. Denkst du etwa, die wär mir wichtiger? Du brauchst es nur zu sagen, Monty, und los geht's.«
    »Sie werden mich finden. Früher oder später...«
    »Weißt du, wann sie einen finden, Monty? Sie finden einen, wenn man wieder nach Hause kommt. Die meisten Leute hauen ab und kehren irgendwann nach Hause zurück, und dann werden sie geschnappt. Darum darfst du dich hier nie wieder blicken lassen. Du suchst dir eine Arbeit irgendwo, wo's das Geld bar auf die Hand gibt, wo der Boss keine Fragen stellt, und fängst ein neues Leben an und lässt dich hier nie wieder blicken.«
    »Ich kann dem nicht ausweichen, Dad. Ja? Ich komm da nicht drum herum. Die Sache ist gelaufen, verstehst du? Also fahr mich bitte einfach nach Otisville.«
    Aber die nächste Meile lang, während der alte Wagen sich schnaufend durch den Matsch kämpft, während die Schneeketten ihr dih-dih-lih-dih-dih, dih-dih-lih-dih-dih singen, schließt Monty die Augen und lässt die Versuchung von der Leine, lässt sie sich austoben. Er hat diese Gedanken schon tausend Mal gedacht, aber sie sind noch nie so rein gewesen wie jetzt, wo sie durch ein leichtes Drehen des Lenkrads nach links Realität werden könnten. Einfach nach Westen fahren, immer weiter nach Westen, über den Hudson River, durch die Vorstädte von New Jersey, durch Staaten, die Monty nicht recht einordnen kann — Pennsylvania vielleicht und dann Ohio? Er stellt sich die Hügel vor, die frierenden Kühe, roten Farmhäuser und weißen Kirchtürme, die schwarze Straße, die das alles durchschneidet. Er stellt sich meilenlange Maisfelder vor und fragt sich, wie Maisfelder im Winter wohl aussehen. Er stellt sich die Wüste vor, eine gewaltige Ausdehnung von Sand und windgeformten Mesas, gabelförmige Kakteen am Straßenrand. Eine staubige Stadt irgendwo im Nirgendwo, eine Kneipe mit einem Zettel an der Tür: AUSHILFE GESUCHT. Gläser spülen, Boden wischen, auf einer Liege im Hinterraum schlafen. In die nächste Stadt fahren und die richtigen Leute auftun, sich einen Führerschein und eine Geburtsurkunde besorgen. Der Kneipenbesitzer würde eine schöne Tochter haben, und zunächst würde er Monty warnen, dass er die Finger von ihr lassen soll, aber dann würde er sehen, wie hart Monty  schuftet, wie die Gläser funkeln, wie der Boden glänzt; er würde Monty zum Barmann befördern und über die wachsende Beliebtheit seines Ladens staunen; er würde seinen Freunden gegenüber zugeben, hier jemanden gefunden zu haben, dem man trauen kann, der sich nichts aus der Kasse nimmt, der anständig ist. Die schwarzhaarige, schwarzäugige Tochter des Kneipenbesitzers würde Monty durch den Raum hinweg anlächeln; sie würde die Lippen geschlossen halten dabei, damit er ihre schiefen Zähne nicht sieht. Er würde ihr von den Ersparnissen eines halben Jahres eine silberne Halskette mit Türkisen schenken, und sie würde weinen beim Auspacken, würde ihr Gesicht an seiner Brust verbergen und sein Hemd mit ihren Tränen nässen. Sie würden zum nächsten Fluss fahren und ihre Kleider auf lehmfarbene Steine legen und in das kalte kalte Wasser steigen, Hand in Hand, und hoch über ihnen würde ein Adler seine Achten drehen. An einem heißen Sommerabend würde in den Bergen ein Feuer ausbrechen, sich rasch ausbreiten und auf die Stadt zuwandem, die Eselhasen und Gürteltiere vor sich hertreiben. Alle würden den Himmel um Regen anflehen, aber es würde nicht regnen. Monty würde sich der Freiwilligen Feuerwehr anschließen und die Feuersbrunst drei Tage und drei Nächte lang bekämpfen, würde Bäume fällen und Unterholz schlagen, eine Feuerschneise um die ganze Stadt herum, würde die Dächer abspritzen, während die Einwohner schon ihre Autos voll laden und sich zur Flucht bereitmachen. Die Anstrengungen der Freiwilligen würden belohnt werden, der Wind sich drehen und die Stadt gerettet sein. Sie würden auf der Main Street eine Parade abhalten, zur Feier der Helden, denen sie diesen Sieg zu verdanken hatten; Monty würde in der Cabriolimousine des Bürgermeisters mitfahren und der jubelnden Menge zuwinken. Eines Tages würde der Kneipenbesitzer Monty beiseite nehmen und ihn fragen, ob er seine Tochter liebe, und Monty würde sagen: Ja, von ganzem Herzen, und der Kneipenbesitzer würde sagen: Ich wäre stolz, dich meinen Sohn nennen zu dürfen. Monty und er würden sich die Hand geben und die Hochzeit auf den kommenden Sonntag festlegen. Die Braut würde
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