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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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dem Fenster gluckert ein verrosteter Heizkörper. Die Tafel ist mit krakeligen Wörtern bedeckt — drei Jahre Englischlehrer, und Jakob kann immer noch nicht mit Kreide umgehen. An der Pinnwand hängt über ausgewählten Aufsätzen eine Fotografie von Majakowskij, wie er vor den Volksmassen deklamiert.
    »So.« Jakob setzt sich auf die Kante seines Tisches und deutet auf einen der Stühle. Er versucht, eine gestrenge Miene aufzusetzen, obwohl er weiß, dass es nichts bringt. LoBianco kann eine randalierende Klasse mit der hochgezogenen Braue zur Ordnung rufen; Jakob möchte am liebsten die Flucht ergreifen, sobald die Neuen anfangen, herumzugrölen und Papierflieger aus dem Fenster zu werfen. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich möchte wissen, warum ich für diese Story eine Zweiplus gekriegt habe.«
    »Gut, zunächst einmal...«
    »Keiner in der Klasse kann schreiben«, sagt Mary und fährt mit den Fingern über die silbernen Namen der Punkrock-Bands auf dem Hefter, den sie auf ihren Knien wippt. »Das wissen Sie genau; fangen Sie bloß nicht...«
    »Die anderen lass mal außen vor. Du stehst nicht im Wettbewerb mit ihnen.«
    Mary schnaubt. »Toll. Genau das tu ich aber, ja? Ich steh im Wettbewerb mit ihnen. Wenn ich mich bei Colleges bewerbe - davon haben Sie ja vielleicht schon mal gehört —, dann schauen die sich dieses Zeug an, das man Noten nennt. Und wenn man keine guten Noten hat...«
    »Sie kriegen Ihre gute Note schon, Mary. Aber was Ihre Story angeht...«
    »Hören Sie, eine gute Note reicht mir nicht. Ich kann am besten schreiben von der ganzen Klasse. Also steht mir auch die beste Note von der ganzen Klasse zu. Und das, was ist das? Zwei-plus? Alle anderen schreiben über ihre ScheißWeihnachtsferien, und mir geben Sie eine Zwei-plus?«
    Marys nussbraune Augen ertrinken in aufgeschminkten Schattentümpeln; Pennies, die gerade noch sichtbar sind am Boden des Wunschbrunnens. Jakob fragt sich, warum sie und ihre Freundinnen einen dermaßen morbiden Stil bevorzugen; als hätten sie ihn sich nicht von den Frauen auf den Titelbildern der Modezeitschriften abgeguckt, sondern von denen in den Kühlfächern des Leichenschauhauses. Und dann ihre Haare. Wann hat sie sich eigentlich das letzte Mal die Haare gewaschen?
    »Die Sache ist einfach die«, sagt er, »dass ich die Note auf der Grundlage Ihres persönlichen Potenzials festlege. Sie haben schon mehr Sorgfalt in den Aufbau Ihrer Storys gesteckt. Diese hier - ich glaube, sie funktioniert einfach nicht.«
    »Das soll wohl heißen, versuch nichts Neues, experimentiere nicht herum.«
    »Nein...«
    »Weil, wenn ich nämlich etwas schreibe, das nicht Ihren Erwartungen entspricht, dann bestrafen Sie mich dafür.« Sie kratzt mit ihren schwarzglänzenden Fingernägeln über den blauen Plastikhefter. Für einen Moment stellt Jakob sich statt des Plastiks die Haut seines Rückens darunter vor.
    »Bestrafen?« Er lächelt. »Ich würde eine Zwei-plus keine Bestrafung nennen.«
    »Vince Miskella schreibt eine Story über seine sterbende Großmutter, und Sie geben ihm eine Eins. Ich meine - tut er Ihnen Leid, oder was? War das eine Eins aus Mitleid? Ständig schreibt irgendwer irgendwas über seine sterbende Großmutter. Wissen Sie, warum? Nicht, weil es so scheißtraumatisch ist. Sondern weil man so garantiert eine Eins kriegt. Außerdem, wissen Sie, wo Vince an dem Abend war, als seine Großmutter gestorben ist? Auf einer Football-Party, den Mädchen was auf den Arsch geben. Und Sie machen voll einen auf sentimental: »Ach Vince, das war sehr kraftvoll, sehr bewegende Nein, war es nicht. Mir war es egal, Ihnen war es egal, allen war es egal. So was tun Großmütter eben, sie sterben. Und dann schreiben ihre Enkelkinder darüber für die Schule, und die Lehrer sind gezwungen, ihnen dafür eine Eins zu geben.«
    »Vielleicht ist das Vinces Art gewesen, um sie zu trauern«, sagt Jakob und versucht, nicht auf die Löcher in ihren zerfetzten Jeans zu starren, auf ihre bleichen Knie, die durch die weißen Fäden lugen. »Jungen fällt es manchmal sehr schwer, ihre... naja, ihre Gefühle zu zeigen.« Was labere ich denn da?, denkt Jakob.
    »Wenn Vince mir also was auf den Arsch gibt, ist das seine Art, um seine Großmutter zu trauern?«
    Jakob wirft einen Blick zur offenen Tür des Klassenzimmers. Dieses ganze Gerede von wegen etwas auf den Arsch geben macht ihn nervös. Hauptsächlich möchte er einfach fliehen - er weiß genau, dass er sie nie anrühren wird, aber
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