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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Autoren: Ha-Joon Chang
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1865, als der Aktienmarkt noch ein Nebenschauplatz des kapitalistischen Dramas war, bezeichnete Marx die Aktiengesellschaft voller Weitblick als »Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion«. Wie seine Kontrahenten, die Verfechter des freien Marktes, sah und kritisierte Marx durchaus, dass die Haftungsbeschränkung Manager zu exzessiven Risiken verleiten konnte. Doch für ihn war das lediglich eine Nebenwirkung des gewaltigen materiellen Fortschritts, den diese institutionelle Innovation mit sich brachte. Marx hatte natürlich einen guten Grund, den »neuen« Kapitalismus gegen die Kritik der Marktliberalen zu verteidigen: Die Aktiengesellschaft war in seinen Augen ein »Durchgangspunkt« zum Sozialismus, da sie das Eigentum vom Betrieb abtrennte und es somit erlaubte, die Kapitalisten (die das Unternehmen nicht leiteten) loszuwerden, ohne den materiellen Fortschritt, den der Kapitalismus erbracht hatte, zu gefährden. 3

Der Tod der kapitalistischen Klasse

    Marx’ Prognose, dass der neue, auf Aktiengesellschaften fußende Kapitalismus dem Sozialismus den Weg bereiten würde, traf nie ein. Doch seine Prophezeiung, dass die neue Institution der Haftungsbeschränkung die produktiven Kräfte des Kapitalismus erst richtig entfesseln würde, erwies sich als unglaublich weitsichtig.
    Im 19. und 20. Jahrhundert beschleunigte die Haftungsbeschränkung die Kapitalakkumulation und den technischen Fortschritt. Der Kapitalismus entwickelte sich von den Stecknadelfabriken eines Adam Smith, von inhabergeführten Metzger- und Bäckereibetrieben mit selten mehr als zehn Beschäftigten zu einem System aus Großunternehmen mit komplexen Organisationsstrukturen, die neben der Führungsriege Hunderte, ja Tausende von Mitarbeitern beschäftigten.
    Anfangs schien sich die lang gehegte Befürchtung, die Manager von Aktiengesellschaften könnten, da sie mit dem Geld anderer Leute wirtschafteten, überhöhte Risiken eingehen, nicht zu bewahrheiten. In den frühen Tagen der Haftungsbeschränkung standen viele Großunternehmen unter der Führung charismatischer Persönlichkeiten – Henry Ford, Thomas Edison, Andrew Carnegie und anderer -, die selbst große Anteilspakete an der Firma hielten. Diese Mitinhaber und Manager konnten zwar ihre Position missbrauchen und zu viel aufs Spiel setzen, was sie hin und wieder auch taten, aber ihre Risikobereitschaft hatte durchaus Grenzen. Da ihnen ein großer Brocken am Unternehmen gehörte, hätten sie sich mit allzu riskanten Entscheidungen selbst geschadet. Darüber hinaus waren viele dieser Manager außergewöhnlich tüchtig und vorausschauend, sodass sie sogar aus einem negativen Anreiz heraus oft bessere Entscheidungen trafen als Firmenchefs, die auch Inhaber ihres Unternehmens waren.
    Mit der Zeit jedoch trat eine neue Klasse professioneller Manager an die Stelle dieser charismatischen Unternehmerpersönlichkeiten. Mit zunehmender Konzerngröße wurde es auch schwieriger, einen größeren Anteil zu halten. Nur in einigen europäischen Ländern wie Schweden blieben die Gründerfamilien (oder Stiftungen, die ihnen gehörten) Mehrheitsaktionäre. Das war einer gesetzlichen Regelung zu verdanken, nach der neue Aktien mit kleineren Stimmrechten versehen waren, meist 10 Prozent, manchmal sogar nur 0,1 Prozent. Dennoch: Professionelle Manager beherrschten fortan die Szene, und die Aktionäre verhielten sich in Managementfragen zunehmend passiver.
    Seit den Dreißigerjahren sprach man vom Managerkapitalismus, in dem die Kapitalisten im traditionellen Sinn – »Industriekapitäne«, wie die Viktorianer sie nannten – durch Karrierebürokraten ersetzt wurden, Bürokraten des Privatsektors, aber nichtsdestotrotz Bürokraten. Zunehmend stand die Befürchtung im Raum, dass diese angestellten Manager die Unternehmen in ihrem eigenen Interesse führten statt im Interesse der gesetzmäßigen Eigentümer, also der Aktionäre. Statt den Gewinn zu maximieren, so hieß es, maximierten sie den Umsatz und damit die Größe des Unternehmens, ihr eigenes Ansehen und ihre Zulagen, oder, schlimmer noch, sie stürzten sich in Prestigeprojekte, mit denen sie ihr Ego aufbügelten, die aber zum Gewinn des Unternehmens und somit seinem Wert, gemessen an der Aktienmarktkapitalisierung, wenig beitrugen.
    Manche akzeptierten den Aufstieg professioneller Manager als unausweichliches, ja hoch willkommenes Phänomen. Der in Österreich geborene amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter, der sich mit seiner
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