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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Autoren: Ha-Joon Chang
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natürlich noch lange nicht auf eine relativistische Position zurückziehen und mit Kritik hinterm Berg halten, weil alles möglich ist. Wir können durchaus, und ich tue das auch, unsere Meinung zur Annehmbarkeit der Arbeitsbedingungen in China (oder jedem anderen Land) vertreten und versuchen, etwas zu ändern, ohne allerdings davon auszugehen, dass jemand, der anderer Ansicht ist, absolut betrachtet im Unrecht ist. China kann sich zwar amerikanische Löhne oder schwedische Arbeitsbedingungen nicht leisten, doch es kann die Löhne und Arbeitsbedingungen seiner Arbeiter durchaus verbessern. Schon heute akzeptieren viele Chinesen die herrschenden Bedingungen nicht und fordern strengere Regeln. Doch die Wirtschaftstheorie (zumindest die der freien Marktwirtschaft) kann uns keine Auskunft über die »richtigen« Löhne und Arbeitsbedingungen in China geben.

Nein, wir sind nicht mehr in Frankreich

    Im Juli 2008, als das Finanzsystem der USA zusammenbrach, pumpte der Staat 200 Milliarden Dollar in die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac und verstaatlichte sie. Der republikanische Senator Jim Bunning aus Kentucky geißelte das als einen Akt, der nur in einem »sozialistischen« Land wie Frankreich möglich sei.
    Als wären die französischen Verhältnisse nicht schon schlimm genug, verwandelte Senator Bunnings eigener Parteichef das geliebte Heimatland am 19. September 2008 vollends in ein Reich des Bösen. Der an diesem Tag von Präsident George W. Bush angekündigte Plan, der später den Namen TARP erhielt (Troubled Asset Relief Program), sah vor, dass der Staat mindestens 700 Milliarden Dollar Steuergelder in den Ankauf von toxic assets stecken sollte, also faulen Wertpapieren. Bush sah seine Entscheidung allerdings in einem völlig anderen Licht. Der Plan habe durchaus nichts Sowjetisches an sich, sondern sei schlicht die Fortführung des amerikanischen Systems der freien Marktwirtschaft, die »auf der Überzeugung beruht, dass die Bundesregierung, wenn nötig, in den Markt eingreifen soll«. In Bushs Augen war es in diesem Falle nötig, einen großen Brocken des Finanzsektors zu verstaatlichen.
    Mr. Bushs Ankündigung war natürlich ein Paradebeispiel für politische Augenwischerei, verbrämte er doch einen der größten staatlichen Eingriffe in der Geschichte der Menschheit als alltäglichen Marktvorgang. Doch immerhin hat Mr. Bush mit seinen Worten entlarvt, auf welch schwachem Fundament der Mythos »Freier Markt« ruht. Es ist demnach reine Ansichtssache, welche staatlichen Interventionen notwendig und mit dem Kapitalismus des freien Marktes vereinbar sind. Der freie Markt hat keine wissenschaftlich definierte Grenze.
    Wenn es aber keine unantastbaren Grenzen gibt, dann ist jeder Versuch, sie zu verschieben, so legitim wie der Versuch, sie zu verteidigen. Die Geschichte des Kapitalismus war deshalb auch ein ständiger Kampf um die Grenzen des Marktes.
    Ein Großteil dessen, was heute außerhalb des Marktes angesiedelt ist, wurde infolge politischer Entscheidungen herausgenommen, nicht etwa durch Vorgänge am Markt selber: Menschen, Regierungsposten, Wählerstimmen, Gesetze, Studienplätze oder nicht zugelassene Medikamente. Noch immer wird versucht, zumindest einige dieser Dinge illegal (etwa durch die Bestechung von Regierungsmitgliedern, Richtern oder Wählern) oder legal zu erwerben (indem man eine große Parteispende tätigt oder sich einen teuren Anwalt nimmt, um einen Prozess zu gewinnen). Doch obwohl es Bewegungen in beide Richtungen gegeben hat, geht die Entwicklung insgesamt weg vom Markt.
    Für die Waren, die noch gehandelt werden, wurden im Laufe der Zeit immer mehr Regeln eingeführt. Blickt man ein paar Jahrzehnte zurück, so haben wir heute vergleichsweise strengere Regeln darüber, wer was produzieren darf (etwa in Form von Zertifikaten für Bio- oder Fair-Trade-Produzenten), wie etwas produziert wird (etwa durch Umweltschutzauflagen oder Grenzen für CO2-Emissionen) und wie es verkauft werden darf (zum Beispiel durch Regeln zur Etikettierung und zur Rücknahme).
    Entsprechend ihrer politischen Natur begleiten gewalttätige Konflikte die Neuziehung von Grenzen. Die Amerikaner fochten über den freien Sklavenhandel einen Bürgerkrieg aus, in dem allerdings auch der freie Handel von Waren und die Zollfrage eine Rolle spielten. 1 Die britische Regierung begann den Opiumkrieg gegen China, um den freien Handel mit Opium durchzusetzen. Regulierungen des freien Marktes in Hinblick auf die
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