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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Autoren: Ha-Joon Chang
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    In den reichen Ländern werden die Löhne, einschließlich etwaiger Mindestlöhne, besonders stark durch die Einwanderungskontrolle beeinflusst. Wie wird die Zuwanderungshöchstquote festgelegt? Nicht etwa durch einen »freien« Arbeitsmarkt, der, ohne Eingriffe, 80 bis 90 Prozent der einheimischen Arbeitskräfte durch billigere und nicht selten produktivere Immigranten ersetzen würde. Vielmehr wird die Einwanderung überwiegend von der Politik geregelt. Wer also noch einen Rest Zweifel an der zentralen Rolle des Staates im freien Markt hat, sollte einmal darüber nachdenken, inwieweit unsere Löhne und Gehälter im Grunde politisch festgelegt werden (siehe Nr. 3).
    Für alle, die einen Kredit ergattern konnten oder einen variablen Zinssatz hatten, wurden Kredite nach der Finanzkrise 2008 in vielen Ländern dank der drastisch sinkenden Zinssätze zunehmend billiger.
    Lag das vielleicht daran, dass die Leute plötzlich keine Kredite mehr brauchten und die Banken die Preise senken mussten, um Kunden zu gewinnen? Nein, es war eine Folge der politischen Entscheidung, die Nachfrage durch eine Zinssenkung zu steigern. Auch unter normalen Umständen werden die Zinsen in den meisten Ländern von der Zentralbank festgesetzt, das heißt, dass politische Entscheidungen mit einfließen.
    Wenn Löhne und Zinsen (in erheblichem Ausmaß) politisch determiniert sind, dann gilt das auch für andere Preise, auf die sie sich auswirken.

Ist der freie Handel fair?

    Eine Regulierung sticht uns dann ins Auge, wenn wir die moralischen Werte, die dahinter stehen, nicht gutheißen können. Die Beschränkung durch hohe Zölle, die die US-Regierung im 19. Jahrhundert dem freien Handel auferlegte, erboste die Sklavenbesitzer, die gleichzeitig nichts Schlimmes daran fanden, Menschen auf dem freien Markt zu handeln. Wer Menschen als Besitz betrachtete, fand das Verbot des Sklavenhandels ebenso unzulässig wie die Beschränkung des Handels mit Industriegütern. Koreanische Ladenbesitzer hätten in den Achtzigerjahren wahrscheinlich das uneingeschränkte Rückgaberecht als einen unfairen und lästigen staatlichen Eingriff in die Marktfreiheit betrachtet.
    Diese Wertekollision liegt auch der heutigen Debatte über den freien beziehungsweise fairen Handel zugrunde. Viele Amerikaner sind der Meinung, dass China einen internationalen Handel betreibt, der zwar frei, aber unfair ist. Ihrer Ansicht nach ist der Wettbewerb unfair, weil China seine Arbeiter unannehmbar schlecht bezahlt und unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lässt. Die Chinesen können damit kontern, es sei unannehmbar, dass die reichen Länder den freien Handel zwar predigen, für Chinas Exporte jedoch künstliche Schranken errichten, indem sie die Einfuhr von Erzeugnissen aus »Ausbeuterbetrieben« beschränken. Es sei ungerecht, dass man China daran hindern wolle, die einzige Ressource auszuschöpfen, die dem Land reichlich zur Verfügung steht: billige Arbeit.
    Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, dass es unmöglich ist, »unannehmbar niedrige Löhne« oder »unmenschliche Arbeitsbedingungen« objektiv zu definieren. Angesichts der riesigen internationalen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung und den Lebensbedingungen ist es nur natürlich, dass ein Hungerlohn in den USA in China eine stattliche Entlohnung wäre, denn der Durchschnittslohn beträgt zehn Prozent dessen, was in den USA üblich ist. In Indien wäre er gar ein Vermögen, da der Durchschnittslohn bei zwei Prozent des US-Durchschnitts liegt. Die meisten Amerikaner, die sich heute für fairen Handel einsetzen, hätten wahrscheinlich auch die Waren, die ihre eigenen Großväter in extrem langer Arbeitszeit und unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt haben, nicht gekauft. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitete der durchschnittliche Amerikaner 60 Stunden pro Woche. Im Jahr 1905 erklärte der Oberste Gerichtshof ein Gesetz des Staates New York, das die Arbeitszeit von Bäckern auf zehn Stunden am Tag beschränkte, für verfassungsfeindlich, weil es »den Bäcker der Freiheit beraubt, so lange zu arbeiten, wie er es wünscht«.
    So betrachtet dreht sich die Debatte über den freien Handel im Wesentlichen um moralische Werte und politische Entscheidungen, nicht etwa um Wirtschaft im eigentlichen Sinn. Es ist zwar ein wirtschaftliches Thema, doch die Ökonomen sind mit ihrem fachlichen Handwerkszeug nicht besonders gut gerüstet, Regelungen zu treffen.
    Deshalb müssen wir uns
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