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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Täte er das nicht, gäbe es kein Geld, und auf die Zuwendungen, die sie beide, Sohn und Tochter, von ihm erhielten, müßten sie dann verzichten. Daraufhin hatte Oswald zu einer aufbrausenden Antwort angesetzt, aber Else war dazwischengefahren und hatte energisch und mit Erfolg darum gebeten, die unnützen Reibereien zu beenden.
    Er jedenfalls freute sich auf die alten Kameraden. Allerdings würden sie nicht vollzählig erscheinen, denn diesmal waren nur diejenigen eingeladen worden, die eines gemeinsam hatten. Sie waren in besonderem Maße gefährdet, weil sie nicht nur, wie die meisten anderen, Denunziation, Nötigung und Erpressung betrieben hatten, sondern darüber hinaus in Todesfälle verwickelt waren. Da gab es einige, und es waren naturgemäß untere Chargen, die den Schießbefehl bis auf den I-Punkt genau befolgt hatten, außerdem jene, die im Rahmen ihrer richterlichen Tätigkeit kompromißlos vorgegangen waren, und wiederum andere, die bei Verhören zu drakonischen Mitteln gegriffen hatten.
    Es würde einen regen Austausch von Erinnerungen und von neuen Erfahrungen geben, und überdies würde man Zukunftspläne schmieden. Auch sollte über die Frage der persönlichen Schuld gesprochen werden. Einer der Ehemaligen, offenbar ein Abtrünniger, hatte das verlangt, und nach den Statuten war jedem, also sogar einem Schwächling wie diesem Fehrkamp, Gehör zu gewähren.
    Nun, ihn selbst, Frank Kopjella oder Theo Bärwald, wie er jetzt hieß, plagten keine Gewissenszweifel. Er hatte nur immer seine Pflicht getan und sonst nichts!
    Bestimmt würde man auch über Honecker reden, mit dem ein verdammt böses Spiel getrieben worden war. Vor wenigen Jahren in Bonn der rote Teppich für ihn und das Abschreiten der Ehrenformation, das politische Tête-a-tête mit fast allen Größen der westdeutschen Regierung bis hin zum Bundespräsidenten und dann? Ja, dann die Polizei und der Haftrichter. Alles eine einzige Zirkusnummer. Es gab keinen Grund, diesen Mann vor Gericht zu stellen.
    Und genauso ist es mit uns, dachte er. Was wir getan haben, ist gefälligst nach den damals geltenden Gesetzen zu beurteilen! Man kann doch jetzt nicht daherkommen und sagen. Du hast zwar nach dem Gesetz gehandelt, aber das Gesetz war falsch, und folglich hast du falsch gehandelt und mußt dich nun dafür verantworten! Himmel noch mal, wir waren ein souveräner Staat, und also hat kein anderer Staat uns mit seiner Elle zu messen! Gesetzt den Fall, Deutschland eroberte morgen Saudi-Arabien, so würde doch auch kein Mensch auf die Idee kommen, die Scheichs wegen Polygamie anzuklagen. So einfach ist das.
    Er hielt auf Flensburg zu, wollte von dort aus auf der B 76 weiterfahren. Er mochte den Osten Schleswig-Holsteins mit seiner bewaldeten und hügeligen Landschaft lieber als die flache Westküstenregion. Dicke Regenwolken hingen an diesem Vormittag über dem Land, und die Straße war nur mäßig befahren. So konnte er die Gedanken schweifen lassen.
    Seine erste Begegnung mit Else kam ihm in den Sinn. Sie waren mit einer Delegation auf dem Flug nach Leningrad, er als Leutnant, sie als Redakteurin der SEDZeitung NEUES DEUTSCHLAND. Sie saß in der TUPOLEW-Maschine neben ihm und korrigierte einen Textentwurf. Sogar jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, wußte er noch, daß es darin um die geplante Autostraße in Usbekistan ging, die Taschkent mit dem Aralsee verbinden sollte.
    Am Abend, bei einem Essen mit sowjetischen Freunden, saßen sie, weil sie es beide so gewollt hatten, wieder zusammen, und am nächsten Tag schlenderten sie gemeinsam durch die Stadt, besuchten das Lenin-Museum und den Winterpalast, und es hatte einen Anstrich von Schizophrenie, daß er, der eingefleischte DDR-Offizier, auf einer der vielen Brücken zu ihr sagte: »Wir sind wie zwei Verliebte, die sich Paris erobern …«
    Warum, so fragte er sich jetzt, mußte es ausgerechnet das dekadente Paris sein, wo doch das schöne Leningrad zur Hand war? Wer weiß, vielleicht brauchten wir für unsere junge Liebe plötzlich etwas ganz und gar Unsozialistisches, etwas, was nicht zu unserem täglichen Leben gehörte, so wie andere, wenn sie verliebt sind, vom siebten Himmel reden, der ja auch nicht Wirklichkeit ist, sondern eine Metapher, mit deren Hilfe sie ihr großes Gefühl an einem großen Ort unterbringen wollen.
    Sie heirateten, und die Kinder kamen. Else gab ihre Anstellung auf, schrieb nur noch dann und wann für die Zeitung. Er avancierte zum Oberleutnant.
    Und dann wurde er ins
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