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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Innerhalb einer Woche fuhren sie dreimal an den Zaun und nahmen immer denselben Weg. So waren wir sicher, daß er nicht vermint war.«
    Der Onkel pfiff leise durch die Zähne. »Donnerwetter, das stell’ ich mir ungeheuer schwierig vor, in einem freien Gelände eine bestimmte Route nur nach Augenmaß im Gedächtnis zu behalten. Oder gab es da Bäume, Büsche, Hügel oder irgendwas anderes als Orientierungshilfe?«
    »Eben nicht. Aber der Himmel kam uns zu Hilfe. Bei der letzten Kontrollfahrt regnete es Bindfäden, und die Reifenspuren blieben noch stundenlang sichtbar. Die Beobachtung hatte jedesmal von ein und derselben Dachluke aus stattgefunden, und da konnte man, um sich den Verlauf des Weges zu merken, hausnahe Hilfsmittel heranziehen. Zum Beispiel. Bei gerecktem Arm beginnt die Strecke zwei Daumenbreiten rechts vom Stamm des Apfelbaums und dreieinhalb Daumenbreiten oberhalb der Gartenpforte. Der Endpunkt wurde auf ähnliche Weise festgehalten. So kamen ein paar halbwegs brauchbare Koordinaten zustande, nur …«
    Wieder unterbrach der Alte, und sein Einwurf machte deutlich, wie aufmerksam er dem Bericht gefolgt war: »Mit dem Verlassen der Dachluke wurden die Koordinaten wertlos.«
    »Ja, die Fixpunkte waren zwar aufs Papier übertragen worden, aber dieser Teil der Fluchtvorbereitung blieb trotzdem im Ungefähren stecken, und das kann man sich bei einem Minenfeld eigentlich nicht leisten. Nun also der Regen, der eine Orientierung vor Ort ermöglichte! Brockmüller fuhr mit seinem Trabi zu der Stelle, an der die Reifenspuren abzweigten. Dort täuschte er eine Panne vor, klappte die Kühlerhaube hoch und deponierte in ihrem Sichtschatten einen etwa kopfgroßen Stein am Wegrand. Danach stellte er sich von der Seite her an sein Auto und beugte sich über den Motor, tat so, als reparierte er ihn, überprüfte aber in Wirklichkeit den vor ihm liegenden Grenzstreifen, verfolgte die schnurgerade verlaufende Reifenspur und benutzte einen weit hinter der Demarkationslinie stehenden Lichtmast, um sich die Route einzuprägen.
    Und jetzt der Tag X! Er war sehr heiß gewesen, und so mußte es den Posten plausibel erscheinen, daß Bauer Brockmüller erst gegen halb neun mit seiner riesigen Maschine am Gerstenfeld auftauchte. Gemächlich zog er seine Bahnen und ließ die Innereien des Ungetüms ihre Arbeit leisten, ließ sie das Getreide schneiden und dreschen. Es dröhnte und ratterte und staubte, und während Julius Brockmüller, auf dem Fahrersitz deutlich zu erkennen, seinen Dienst an der Volksernährung versah, kauerten Marianne Brockmüller, Tilmann und ich in den Nischen, sie links, ich rechts, Tilmann hinten.
    Um halb zehn war es endlich soweit. Ich hatte vorgeschlagen, mit dem Glockenschlag zehn Uhr abzuzweigen, dem Zeitpunkt der Wachablösung, weil ich auf die durch den Wechsel verursachte Ablenkung setzte, aber Brockmüller war mit einem stichhaltigen Gegenargument gekommen: ›Genau dann‹, hatte er gemeint, ›sind für ein paar Minuten doppelt so viele Augen da oben, und die Gefahr, daß einer zu uns rüberguckt, ist noch größer.‹ Natürlich rechneten wir nicht damit, während des gesamten Endspurts ungesehen zu bleiben, aber je später sie mitkriegten, was da unten auf dem Grenzstreifen geschah, desto besser.
    Als die Arbeit getan war, fuhr Brockmüller auf den Weg, so als ginge es nach Haus. Beim Stein bog er ab. Mit Hilfe einer Spezialvorrichtung warf er das sperrigste Stück, das mehrere Meter lange Auslaufrohr, ab, und sowie er die Kurve genommen hatte, drückte er aufs Gas. Es rumpelte gewaltig.
    Nach zwei oder drei Minuten schlugen die ersten Salven gegen die metallenen Wände, prallten dort ab. Weiter ging’s. Uns fehlte nicht mehr viel. Der Zaun selbst würde, das hatte Brockmüller immer wieder versichert, für das gepanzerte Fahrzeug kein Hindernis sein. Doch kurz bevor wir ihn erreichten, passierte es. Ich kann nicht genau sagen, was für ein Geschoß es war, ob von einem Flakgeschütz oder einer Panzerabwehrkanone, jedenfalls war’s ein anderes Kaliber als das der MG-Salven. Es gab einen mächtigen Einschlag, und ich kriegte einen Treffer in die Schulter, wurde sofort ohnmächtig. Was ich dir von jetzt an erzähle, kommt aus zweiter Hand.
    Als ich wieder bei Bewußtsein war, lag ich in einer westdeutschen Klinik. Unser Kasten hatte es also geschafft. Doch zu welchem Preis! Marianne Brockmüller hatte, so erfuhr ich, tot in ihrem Versteck gelegen, und Tilmann war, weil das Geschoß die
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