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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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hatte der Informant hinzugefügt: »Er soll beim Verhör gestorben sein.«
    »Durch Schläge?«
    Darauf war zunächst nur ein Nicken erfolgt, aber schließlich hatte ein weiterer blauer Schein dem Mann den Zusatz entlockt: »Der Major. Der Kopfjäger.«
    »Sagen Sie mir den Namen!« Seine Forderung hatte wie ein Befehl geklungen, und der andere war zusammengezuckt. Es hatte einiger Mühe bedurft, ihn wieder zum Sprechen zu bringen. Doch vorerst war der Name nicht gefallen. Statt dessen hatte er sich anhören müssen: »Verstehen Sie bitte, mich jagt man ja auch! Dabei bin ich nur ein kleiner Fisch! Ich war Häftling, genau wie Ihr Sohn, aber später rückte ich auf zum Kalfaktor, und darum gelte ich nun nicht mehr als Opfer, sondern als Täter. Na ja, und weil ich, wie die Großen, abgetaucht bin, brauch’ ich eben Geld.« Da hatte ein dritter Schein den Besitzer gewechselt, und endlich war der Name, an dem ihm so gelegen war, gefallen, nicht geflüstert, nur gehaucht: »Frank Kopjella. Der Major. Ist aber unauffindbar.«
    Am selben Tag war er nach Hamburg zurückgekehrt, und fast so, als hätte sein Körper die vielen Stunden am Steuer des Wagens abgewartet, hatte das Händezittern erst zu Hause eingesetzt. Mit Macht. Sie hatten regelrecht geflattert, waren fünf, sechs, sieben Zentimeter ausgeschwungen. Er hatte alles Mögliche unternommen, um sie zur Ruhe zu bringen, hatte sie in sehr heißes, dann in eiskaltes Wasser getaucht, doch es war vergeblich gewesen. Dann hatte er es mit Kraft versucht, hatte die Hände flach an die Zimmerwand gepreßt und mit seinem ganzen Körpergewicht den Druck noch verstärkt. Wieder vergeblich. Zuletzt hatte er sich sogar in den Liegestütz fallen lassen, und unter dieser äußersten Beanspruchung war es besser geworden, aber nach dem Wiederaufrichten hatte das Flattern erneut eingesetzt. Und nun war es schon der dritte Tag, an dem er sich dieser lästigen Erscheinung erwehren mußte.
    Immer noch saß er auf seinem Bett, verschränkte jetzt die Arme vor der Brust, so daß die Hände eingeklemmt waren. Doch auch bei dieser Haltung vibrierten sie.
    Und da geschah es! Von einem Moment zum anderen! Noch einmal hatte er vor Augen gehabt, wie sein Informant sich über den Tisch beugte und ihm »Frank Kopjella. Der Major. Ist aber unauffindbar« zuraunte, und nun nahm dieser Major für ihn Gestalt an. Er stand, die Beine leicht gespreizt, in einem kleinen, kargen Raum innerhalb der Berliner Gefängnismauern, und vor ihm saß Tilmann, bleich und den Blick gesenkt und die Lippen zusammengepreßt. Doch der herrische Mann packte ihn an den Haaren, riß seinen Kopf in die Höhe, so daß der gleißende Lichtstrahl ihn blendete. Und dann setzte es die Schläge, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der geballten Rechten und mit ungeheurer Wucht, denn an ihnen war Tilmann ja gestorben.
    Obwohl er sich die Szene nur vorgestellt hatte, reagierte er unmittelbar. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn plötzlich. Ich muß zurückschlagen, denn Tilmann kann es nicht mehr. Ich muß diesen Kopjella ausfindig machen!
    Und da war das Flattern zu Ende. Er spürte es sofort, streckte die Arme wieder nach vorn, starrte auf seine Hände, fünf, zehn, zwanzig Sekunden lang, mißtrauisch zunächst, doch bald mit wachsender Zuversicht. Er versuchte ein paar Griffe, spreizte die Finger, ballte die Hände zu Fäusten, faltete sie dann, löste sie wieder. Alles gelang ihm ohne Schwierigkeiten.
    Also war’s tatsächlich der Schock, dachte er, der mir in die Hände gefahren ist, grad so, als hätte er ihnen sagen wollen. Nun tut doch was! Und er konnte sich erst legen, nachdem es in meinem Kopf oder in meiner Brust – ist ja egal, wo das passiert – zu einer Art Mobilmachung gekommen war.
    Jahrelang hatte er mit der Ungewißheit gelebt, hatte nur in Erfahrung bringen können, daß Tilmann wegen des Fluchtversuchs in ein Berliner Jugendgefängnis gebracht worden war. Gleich nach dem Zusammenbruch der DDR hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt und den Jungen gesucht, hatte die Behörden eingeschaltet und war nach Berlin gereist. Ihm wurde mitgeteilt, der Häftling Tilmann Kämmerer sei laut Gefängnisunterlagen am 7.Juli 1989 aus der Anstalt geflohen und nicht gefaßt worden. So beruhigend diese Nachricht auch hatte klingen mögen, so wenig glaubwürdig war sie dem Vater erschienen, denn ein riesiges Fragezeichen war geblieben. Warum war Tilmann nach dem Wegfall der innerdeutschen Grenze nicht aufgetaucht? Bis
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