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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Ministerium für Staatssicherheit berufen. Das war eine Auszeichnung, denn an seine hauptamtlichen Mitarbeiter stellte des MfS hohe Anforderungen. Aber es war ja auch eine lupenreine Biographie, die er vorweisen konnte. Herkunft aus der Arbeiterklasse, FDJ-Führer und vorher bei den Jungen Pionieren, glänzender Hochschulabschluß und weder im engeren noch im weiteren Umkreis Kontakt zu politischen Störenfrieden. Einen Makel allerdings gab es, nur hatte den niemand herausgefunden, und er selbst hatte es vorgezogen, ihn im Dunkel zu belassen. Sein Großvater mütterlicherseits war SS-Offizier gewesen und hatte sich nach dem Krieg ins Ausland abgesetzt, wo er aber bald darauf starb. Da die Großmutter ein zweites Mal geheiratet und außerdem immer im Westen gelebt hatte, war der Name dieses Mannes im Zusammenhang mit ihm nirgendwo festgehalten worden. Seit nun er, der Enkel, im dänischen Ribe sein Dasein fristen mußte, um unentdeckt zu bleiben, dachte er häufig daran, daß die Ereignisse sich zum Teil auf seltsame Weise wiederholt hatten. Damals wie heute, sagte er sich dann jedesmal, war es allein eine Frage der politischen Konstellation, ob man zu den Verfolgten oder zu den Verfolgern gehörte. Das Rad der Geschichte drehte sich unentwegt und machte mal die einen, mal die anderen zu scheinbar Schuldigen.
    Er kam in die Hauptabteilung VIII und konnte bei seinen Ermittlungen zahlreiche Erfolge verbuchen, wurde Hauptmann, später Major.
    Verdammt, dachte er nun, während er das malerisch gelegene Schleswig zu seiner Linken hatte und über die Ostsee sehen konnte, die er noch immer als DDRGewässer einstufte, man ist tüchtig, man arbeitet, wie das Gesetz es befiehlt, wird befördert, kriegt Orden und Ehrenzeichen für seine Leistungen, und da kommt dann so ein Tag, an dem die Leute dir sagen. Okay, du magst ja recht einsatzfreudig gewesen sein und auch effizient, hast nur leider in der falschen Laufbahn gesteckt.
    Na gut, ich seh’s ein, es gibt keine Chance, daß sich in nächster Zeit alles noch einmal umdreht und dann das Alte wieder zählt, aber ich lehne es ab, für den Rest meines Lebens wegen eines Irrtums büßen zu müssen, der nicht meiner war, wenn es denn überhaupt einer war! Ich will in den zwanzig Jahren, die mir vielleicht noch bleiben, nicht wie ein geprügelter Hund mein Dasein fristen, womöglich hinter Gefängnismauern! Also werde ich mir dieses zweite, dieses dänische Leben einrichten, so gut es eben geht, und irgendwann kann ich hoffentlich zu meiner Familie zurückkehren.
    Er kam pünktlich in Lübeck an, traf an der Rezeption des Hotels auf Horst Fehrkamp, wechselte ein paar Worte mit ihm, bezog dann sein Zimmer. Eine halbe Stunde später saß er, zusammen mit den Kameraden, in einem gegen Lauschangriffe abgesicherten Kellerraum des HADEXGebäudes. Es war eine große Freude, sie alle wiederzusehen.
    Sobald sie ganz unter sich waren, gab es grünes Licht für die freie Rede. Fehrkamp, der Abtrünnige, machte den Anfang. Er sprach etwa zehn Minuten, faßte dann zusammen:
    »Letzten Endes mündet alles in die Frage, ob außer dem damaligen DDR-Recht ein anderes, ein übernationales herangezogen werden kann. Ich meine, ja. Es ist zum Beispiel in der KSZE-Schlußakte, zu der auch wir uns bekannt haben, verankert. Da ist die Rede von Menschenrechten und Freizügigkeit, und unser Schießbefehl verstieß eindeutig gegen diese Forderungen. Darum sind wir schuldig, ganz gleich, auf welcher Stufe zwischen Erich und dem einfachen Mauerschützen wir gestanden haben. Und wenn …«
    Weiter kam er nicht. Die anderen protestierten, und in dem allgemeinen Durcheinander war es Frank Kopjella, der für Ruhe sorgte. Er ging nach vorn, schob Fehrkamp beiseite, breitete die Arme aus, und so, in der Pose dessen, der Wogen glättet, begann er zu reden, sehr laut zunächst. Mit dem Verebben des Tumults wurde auch er leiser, ließ schließlich die Arme wieder sinken.
    »Freunde, es geht also um die Elle, die anzulegen ist. Aber für politisches Handeln gibt es kein Eichmaß wie etwa für den Meter, dessen Urnormal aus Platin-Iridium dafür sorgt, daß niemand sich vertut. In der Politik geht es komplizierter zu, und wenn wechselnde Winde hinzukommen, wird es noch schwieriger mit der Orientierung. Nehmt den Einigungsvertrag! Er legt fest, daß für uns nunmehr das bundesrepublikanische Recht gilt, und genau da beginnt mein Vorbehalt. Man beteuert zwar, es sei keineswegs ein Siegerrecht, wie es damals in Nürnberg zur
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