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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Rückwand abgerissen hatte, auf den Grenzstreifen gefallen. Mit Brockmüller konnte ich am nächsten Tag selbst sprechen. Er war am Kopf getroffen worden, aber nicht schwer. Sein einziger Gedanke war gewesen, um jeden Preis weiterfahren! Das hat er gemacht, und ich glaube, jeder andere hätte es auch gemacht. Er wußte ja nicht genau, was hinter ihm geschehen war, begriff nur, daß der Motor intakt war, das Fahrzeug noch seine Räder hatte und daß es fuhr. Wenige Meter vor sich sah er den Zaun, und dann walzte er ihn nieder.« Paul Kämmerer machte eine Pause, zündete sich eine neue Zigarette an, sah dabei, wenn auch nur ganz flüchtig, auf seine Hände, die vollkommen ruhig waren.
    »Entsetzlich!« sagte der Onkel.
    »Ja, und was mit Tilmann war, erfuhr ich erst durch eine Zeitung, die über unsere Flucht berichtet hatte. Ich hab’ mich an die Redaktion gewandt, um zu erfahren, woher ihre Information stammte. ›Von unseren Grenzern und auch von drüben‹, hieß es. Dort allerdings war nur von Tilmann die Rede gewesen. Es hieß, ein Sechzehnjähriger sei beim Versuch der Republikflucht leicht verletzt worden. In einigen Wochen werde er wiederhergestellt sein, dann aber nicht nach Haus, sondern ins Gefängnis gehen.«
    »Und von ihm selbst hast du nicht ein einziges Lebenszeichen bekommen?«
    »Nein. Vier Monate später erhielt ich von dem alten Ochels die Nachricht, daß Tilmann ihm aus dem Gefängnis hatte schreiben dürfen. Er hatte seinem Großvater mitgeteilt, daß es ihm gutgehe. Von mir war in seinem Brief nicht die Rede, aber bestimmt ist da einiges der Zensur zum Opfer gefallen.«
    »Und ist dein Schwiegervater danach wieder im Westen gewesen?«
»Nach unserer Flucht hat er keine Besuchsreisen mehr machen dürfen. Du weißt ja, Sippenhaftung gab’s nicht nur bei den Nazis.«
»Junge, in was für einer Welt leben wir!«
»Ja, und nun hab’ ich in Halle einen Mann ausfindig gemacht, der in demselben Gefängnis gesessen hat, in dem auch Tilmann war. Er erzählte mir, eines Tages habe die Nachricht die Runde gemacht, das Baby aus Block 4 – so nannten sie Tilmann, weil er der Jüngste war – sei ums Leben gekommen. Beim Verhör.«
»Beim Verhör?«
»Ja, durch Schläge.« Wieder machte Paul Kämmerer eine Pause, starrte auf den Fußboden, hob dann den Kopf und fuhr fort:
»Und ich weiß, wer ihn auf dem Gewissen hat.« »Du weißt … , du kennst …«
»Ich weiß seinen Namen und seinen Dienstrang, aber nicht, wo er sich verkrochen hat.«
»Und jetzt willst du nach ihm suchen!«
»Ja.«
Der Onkel nickte, fragte dann aber:
»Und wenn du ihn gefunden hast? Was dann?«
»Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls soll er mir sagen, wie Tilmann umgekommen ist.«
»Er wird sich herauslügen.«
»Das laß ich nicht zu.«
»Auf welche Weise wirst du es nicht zulassen?«
»Es muß doch Zeugen geben! Die schaff ich auch herbei.«
»Da hast du dir viel vorgenommen. Heute suchen Tausende von Opfern nach ihren Peinigern. Das ist immer so, wenn es eine Wende gegeben hat. Aber ich wünsche dir Glück, mein Junge, Glück und Augenmaß!«

5
    Die HADEX hatte gerufen, und so befand Frank Kopjella sich auf dem Weg nach Lübeck. Er war in aller Frühe aufgebrochen, um mittags pünktlich zur Stelle zu sein.
    Die Zusammenkünfte mit den Ehemaligen waren nach seinem Geschmack, holten sie doch, wenn auch nur für Stunden, die große Zeit zurück. Oswald dachte ganz anders darüber, und bei dem Abendessen in Skaerbaek hatte es zu diesem Thema fast eine Auseinandersetzung gegeben. Er hatte seinen Sohn nicht wiedererkannt, als der plötzlich vom Leder zog und erklärte: »Okay, so harmlos und rührend solche Feste sind, wenn es sich dabei um Zusammenkünfte von Menschen handelt, die vor vierzig, fünfzig Jahren gemeinsam die Schulbank gedrückt haben, so schaurig finde ich Versammlungen von Kriegsveteranen und politischen Kampfgefährten. Die schmettern da ihre alten Gesänge und Parolen, schlagen noch einmal ihre Schlachten, versenken noch einmal die feindlichen Schiffe, bombardieren noch einmal die gegnerischen Städte, und womöglich ist es sogar so, daß zu den aufgekochten Gemetzeln Kaviar und Champagner serviert werden und die alten Kämpfer nebst Gattinnen die greisen Tanzbeine schwingen!«
    Ja, das war der Kommentar gewesen, den Oswald sich herausgenommen hatte, und er, der Vater, hatte, um einen Streit zu vermeiden, lediglich erwidert, es habe immerhin auch einen wirtschaftlichen Hintergrund, wenn er seine Kontakte pflege.
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