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1986 Das Gift (SM)

1986 Das Gift (SM)

Titel: 1986 Das Gift (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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mir liegt. Verstehen Sie das? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem will ich versuchen, es Ihnen begreiflich zu machen: Wenn eine wunderschöne Frau stundenlang hysterisch auf Sie einschreit, werden Sie ihre Schönheit nicht mehr sehen. So ergeht es mir mit Ihrer bahía . Der Lärm verstopft mir nicht nur die Ohren, er trübt auch meinen Blick. Es ist jetzt fast drei Uhr in der Nacht. Seit vier oder fünf Stunden sitze ich in meinem Zimmer mit Watte in den Ohren. Aber es nützt nichts, der Lärm ist stärker. Da draußen …«, wieder hob er beide Arme, zeigte diesmal auf die Terrasse, »spielen zwei Kapellen. Gegeneinander. Noch ist, scheint mir, nicht entschieden, wer gewinnen wird, denn beide kämpfen verbissen. Wußten Sie es denn nicht? Wenn Musik auf Musik stößt, wird daraus kein addierter Genuß, sondern es ist eher so, als steckten Sie sich Kaviar und Himbeereis gleichzeitig in den Mund, und da kriegen Sie unweigerlich das Kotzen. Ich sitze also in meinem Zimmer, höre mir diesen idiotischen Wettkampf an, und wenn wirklich einmal zufällig beide zur gleichen Zeit eine Pause machen, hört man … na, was wohl? Die Aggregate, die so laut sind wie die Düsen eines Jets! Und dazu den Lärm der Uferstraße. Also bitte ein Taxi! Und zum Frühstück meine Rechnung!«
Paul Wieland hatte kein Taxi gerufen, sondern den erregten Gast ins Büro gebeten und zu einem Tequila eingeladen. Und er hatte ihm auch noch ein zweites und ein drittes Glas eingeschenkt. Ganz allmählich war sein nächtlicher Besucher ruhig geworden, und es hatte schon fast versöhnlich geklungen, als er sagte: »Wenn mich hier ein Skorpion sticht, oder es gibt ein Erdbeben, und mein Zimmer im zwanzigsten Stock schwingt nach links und nach rechts aus, dann … dann akzeptiere ich das, denn ich wußte ja, daß hierzulande so etwas vorkommen kann. Es geht also auf mein Risiko. Aber dies hier«, er tippte sich mehrmals an die Ohren, »wird von Menschen gemacht, von euch! Ihr beherbergt tausend Gäste, die für ihren Aufenthalt teuer bezahlen und von denen mindestens die Hälfte ihre nächtliche Ruhe haben will. Aber ihr quält sie, treibt sie zur Verzweiflung! Das ist … das ist pure Dummheit!«
Gegen Morgen hatte Paul Wieland den Mann in sein Zimmer gebracht, im Laufe der nächsten Stunden dann mehrmals nach ihm gesehen und ihn jedesmal tief schlafend vorgefunden. Am Abend war der Gast abgereist, eine Woche früher als geplant.
Hinsichtlich seines eigenen Vorhabens hatte dieses Ereignis Wieland nicht mehr losgelassen, und seit sein Hotel fertiggestellt war, prangte über der Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift: »30 comfortable rooms – Swimmingpool – 24 hours service – air condition – no music«. Sein Hausprospekt bekam den gleichen Text, und schon bald sollte er erfahren, daß vor allem der letzte Hinweis viele Gäste bewog, unter den zahlreichen Hotels von Acapulco seines, das REFUGIO, auszuwählen.
Übers Jahr gesehen, konnte er eine respektable Belegung aufweisen. Sie lag bei fünfundsechzig Prozent. Er kannte die Zahlen seiner Kollegen. Die Auslastung der Drei-SterneHotels, zu denen das REFUGIO gehörte, lag zur Zeit bei kaum fünfzig Prozent, die der Vier-Sterne-Hotels bei dreiundsechzig, der Fünf-Sterne-Hotels bei achtundsechzig, und die oberste Kategorie, die sich Gran Turismo nannte und zu der das berühmte ACAPULCO-PRINCESS und das LAS BRISAS gehörten, verzeichnete eine Quote von fünfundsiebzig Prozent. Die kleinen Häuser mit geringem Komfort hatten dreißig Prozent und befanden sich damit in der Zone der Unwirtschaftlichkeit.
Er stand also gut da, und viele seiner Besucher waren Stammgäste.
Im Erdgeschoß hatte er eine kleine Wohnung anbauen lassen, in der seit zwei Jahren seine Eltern lebten. Nachdem das REFUGIO eine verläßliche Existenzgrundlage geworden war, hatte er sie gebeten, zu ihm zu kommen. Die Verwandten in Deutschland hatten diesen Schritt als ein zu großes Wagnis bezeichnet und dafür Gründe aufgeführt, wie die Volksweisheit sie nun mal bereithält: Alt und jung dürfen nicht zusammenleben, und alte Bäume soll man nicht mehr verpflanzen! Auch auf den gerade für ältere Menschen beschwerlichen Wechsel von kühleren Breiten in ein tropisches Land hatte man hingewiesen. Doch das Experiment war geglückt. Was das Zusammenleben unter einem Dach betraf, dachten alle drei mittlerweile wie die Mexikaner, die, ob arm oder reich, zwischen den Generationen engen Kontakt halten. Und auch mit dem tropischen Klima kamen
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