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1986 Das Gift (SM)

1986 Das Gift (SM)

Titel: 1986 Das Gift (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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die beiden fast Siebzigjährigen gut zurecht. Ja, sie waren unter der Sonne Méxicos sogar aufgelebt.
    Er sah aufs Wasser und gestand sich wohl zum hundertsten Male ein: Es ist der schönste Platz der Welt, wenn es einem gelingt, dem Lärm da unten zu entfliehen. Ich habe es richtig gemacht, damals, als ich mit meinen zwölfeinhalb Dollar an Land sprang und mich fürs Bleiben entschied!
    Von seinem Balkon aus konnte er fast die ganze Bucht übersehen, das riesige Oval mit dem schmalen gelben Saum und den grünen Hängen, und einmal mehr begriff er, daß die von der Natur geschaffene Anlage den Namen verdiente, den irgendein findiger Kopf ihr gegeben hatte: Amphitheater.
    Auf der türkisfarbenen Bühne und der gelben Rampe lief das immer gleiche Stück, das FERIEN hieß oder FREIZEIT oder auch einfach nur FREUDE, und auf dem sanft ansteigenden Hügelring befanden sich, über die Ränge verteilt, Abertausende von Zuschauern. Ganz oben, auf dem fünften Rang, hatten noch bis vor kurzem die Armen gehaust, ohne Wasser, ohne Licht. In Scharen waren sie aus der Tiefe des Hinterlandes gekommen, in dem Glauben, der Tourismus gebe auch ihnen Arbeit und Brot. Ihre Rechnung war nicht aufgegangen. Dennoch waren immer mehr Menschen gekommen, los paracaidistas , wie man sie nannte, die Fallschirmspringer, weil sie, wie vom Himmel gepurzelt, auf einem Stück des scheinbar so gesegneten Territoriums gelandet waren und es, so als hätten sie’s erobert, nicht wieder preisgeben wollten. Schließlich aber, Anfang der achtziger Jahre, ereilte sie das rigorose Sanierungsprogramm der Stadtväter von Acapulco. Die hatten ihnen zwanzig Kilometer landeinwärts eine Siedlung von gewaltigen Ausmaßen aus der Erde gestampft und ihr einen verheißungsvollen Namen gegeben, Ciudad Renacimiento , die wiedergeborene Stadt. Dort gab es Wasser und Elektrizität, und dennoch bedurfte es polizeilicher Gewalt, um die Menschen umzuquartieren. Wasser und Licht, nun gut, zwei Errungenschaften, die geeignet waren, ihnen das Leben zu erleichtern. Aber was war mit der Bucht und mit der frischen Brise? Die hatten sie verloren, und so sehnten sie sich zurück nach ihrem fünften Rang.
    Paul Wieland schaute eine Weile den Wasserskiläufern und den Seglern zu, doch dann schweifte er ab, folgte einer Gewohnheit. Schon früher hatte er sich beim Anblick alter Städte gern ausgemalt, wie die Menschen dort vor zwei, drei oder vielleicht noch mehr Jahrhunderten gelebt haben mochten, und so versetzte er nun auch den vor ihm liegenden, von der Natur gesegneten Hafen in eine Zeit, in der palmenbewachsene Strände noch nichts mit Freizeit und Erholung zu tun hatten, dachte sich hinein in das Acapulco der conquistadores .
    Die Bucht war dieselbe. Den Hügelring gab es, den Strand und die Palmen. Ja, das Amphitheater existierte schon, doch seine Ränge waren noch leer, und die Stücke auf der Bühne waren andere: Nachdem Cortez das Land für die spanische Krone erobert hatte, wurde Acapulco der bedeutendste Handelsplatz der Neuen Welt für den Warenaustausch mit Asien. Spanische Galeonen brachten Seide, Elfenbein, Porzellan und Gewürze aus China und holten dafür mexikanische Produkte wie Gold, Silber, Wein und Kakao. Das erste dieser Schiffe, die beschwerliche monatelange Reisen zu bestehen hatten, war die NAO DE CHINA. Fortan wurde das Eintreffen neuer Waren zu einem Fest. Musik, die noch Musik war, ertönte auf den Straßen und Plätzen, Wein wurde ausgeschenkt, die Menschen tanzten, und Gäste kamen von weit her.
    Doch, wie zu allen Zeiten, gab es auch damals Menschen, die ernten wollten, ohne gesät zu haben. Sobald bekannt geworden war, daß regelmäßig kostbare Schiffsladungen zwischen México und China unterwegs waren, nahmen auch die Piraten Kurs auf Acapulco, kreuzten vor der Küste und versuchten, die reichbeladenen Schiffe abzufangen und aufzubringen. Das bewog die spanischen Kolonialherren, in Acapulco die Festung San Diego zu errichten.
    Der Aufstieg der Stadt zu Rang und Ansehen hielt nicht an. Im Gegenteil, sie entwickelte sich wieder zurück. Als nämlich México sich vom spanischen Mutterland löste, war es mit dem weltweiten Handel vorbei. Acapulco geriet wieder auf den Stand eines unbedeutenden pazifischen Fischerhafens, denn immer noch nicht waren die Buchten der Welt zum Baden da. Ihr Segen beschränkte sich darauf, den Schiffen Schutz zu gewähren.
    Der zweite Aufschwung der Stadt begann viel später. Erst 1927 wurde die Autostraße zwischen Mexiko
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