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182 - Im Dorf der Telepathen

182 - Im Dorf der Telepathen

Titel: 182 - Im Dorf der Telepathen
Autoren: Ronald M. Hahn
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menschliche Seele, wie viele Religionen behaupteten, wirklich unsterblich? Wie fühlten sich wohl unsterbliche Seelen, die in einem künstlichen Kosmos ein Schattendasein führten; die weder Hunger noch Durst empfanden und nie ermüdeten?
    Jetzt, im Licht, erinnerte die Gegend, die sie durchwanderte, an eine rudimentäre Ortschaft. Im Dunkeln hatte sie immer nur schneebedeckte Steinhaufen gesehen. Die hier wachsenden Bäume sahen öde und trostlos aus. Jedes Wachstum war in dieser kalten Welt zum Stillstand gekommen. Nur in den Tannen regte sich ein Anschein von Leben. Sie bildeten einen starken Kontrast zu ihren blattlosen, wie Skelette aussehenden Vettern.
    Hin und wieder schüttelte sich eine Konifere und ließ ihre Schneelast dumpf polternd zu Boden fallen. Der Wind pfiff durch die Nadeln, ließ spröde Äste klirren und fegte Eiskristalle vor sich her.
    Aber die Welt war nur scheinbar reglos: Große schwarze Raubvögel segelten auf lautlosen Schwingen über ihr dahin. Sie schienen bereit, sich auf Malie zu stürzen und ihre Krallen in sie zu schlagen.
    Irgendwann stand sie vor dem halb verschütteten Portal einer Ruine. Wäre sie je ein intaktes Haus gewesen – was nicht anzunehmen war –, hätte sie beeindruckend ausgesehen.
    John Lennon saß in einem schwarzen Mantel auf den Eingangsstufen. Hinter ihm tat sich ein finsterer Gang auf, aus dem fremdartige Akkorde wehten. Er rauchte eine Zigarette und summte vor sich hin. Sein Haar war lang, die Gläser seiner Brille rund und blau getönt. Er trug eine graue Ballonmütze und hochhackige schwarze Stiefel.
    Malie erkannte ihn sofort. Im E-Archiv ihres Bunkers lagerten alle Aufzeichnungen seiner Auftritte.
    Erstaunlich, wie jung und müde er wirkte. Malie hatte seine Musik schon als kleines Mädchen verehrt. Ihn hier zu sehen war ein Fest, aber natürlich auch nur ein Schabernack des »unbedeutenden Moduls«.
    »Dein Interesse an mir ist diskussionswürdig«, sagte Malie und blieb stehen. »Dass du mir in so vielen Gestalten erscheinst, hat doch einen Grund.«
    Lennon schaute sie an. »Es ist wahrscheinlich nur mein Spieltrieb.«
    »Hologramme spielen nicht.« Malie trat näher heran und musterte ihn. Seine Augen waren blau, grün, braun und schwarz und schillerten. Sein Blick war nun plötzlich wach und ausgeschlafen, aber alt, steinalt.
    Lennon seufzte. Sein Gesicht zerfloss. Er nahm die Züge des Weißen Ritters an. Die Brille löste sich in Wassertropfen auf, die wie Tränen über seine Wangen liefen. Sein dunkelblondes Haar wurde weiß. Ihre Länge veränderte sich nicht.
    »Wer bist du?«, fragte Malie.
    »Ein Nichts.«
    »O nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast Macht. Du nutzt sie für deine Interessen. Du bist mehr als ein Modul. Du bist ein Künstler.«
    Der Weiße Ritter schaute sich auf rührend menschliche Weise um – als könne jemand den Statthalter eines ganzen Universums belauschen.
    »Ich verwalte das Archiv, kopiere Inhalte, sortiere sie, lege sie ab. Ich verknüpfe Dateien. Ich bin ein Hüter des Wissens. Die Großreiche der Menschen haben es mir besonders angetan, und ich stelle gern Prüfungen darin zusammen. Ramses, Cäsar, Karl der Große, Dschingis Khan, Hitler… Ich kenne jeden Seufzer jedes Menschen, sofern ein anderer ihn gehört und nicht vergessen hat. Ich bin der Anfang und das Ende. Ich lese Menschen seit vierzig Jahrtausenden. Sie haben mir erzählt, was sie bewegt. Was sie mir nicht erzählt haben, habe ich erlauscht. Hören Sie, Gnädigste…«
    Er breitete die Arme aus. Ein Kosmos körperloser Stimmen prasselte auf Malie ein.
    »… wenn ich den Posten diesmal nicht kriege, tret ich aus der Partei aus und steig bei den Konservativen ein…«
    »… hätt ich nich so gezittat, hätt ich mia die Pulle krallen und innen Ärmel schiehbm können…«
    »… wenn er rauskriegt, dass ich mit Manuel in der Kiste war, bringt er mich um…«
    »… das hab ich jetzt davon. Wieso musste ich meine Ersparnisse ausgerechnet einem Rechtsanwalt anvertrauen?«
    »… so was läuft frei rum, und Elvis musste sterben…«
    Es war wie eine Lawine. Malie wankte unter dem Ansturm. Das Gerede war endlos. So musste es im Kopf eines Kranken sein, der Stimmen hörte: Millionen Tonnen Banalitäten, aber auch Protokolle schrecklicher Einsamkeit. Man hätte Bibliotheken damit füllen können.
    Das stetige Auf und Ab der Stimmen ließ ihre Gehörgänge rauschen. Irgendwann – sie war überzeugt, dass Stunden vergangen waren, obwohl es nur eine
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