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178 - Die vergessene Macht

178 - Die vergessene Macht

Titel: 178 - Die vergessene Macht
Autoren: Stephanie Seidel
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unter Deck zu folgen, wo es trockene Kleidung gab, und der Junge trottete mürrisch los. Daa’tan zog ein Gesicht, als hätte sich sein Leben in ein Trauerspiel verwandelt. Der äußerlich Zwölfjährige, der in Wahrheit aber erst dreieinhalb Jahre alt war, sehnte sich nach Abenteuern, nach Aufregung und überschäumender Erlebnisdichte. Doch das Aufregendste, was ein Schiff auf dem Ozean bieten konnte, war sein Tanz über schäumende Wellen.
    »Ich will zurück nach Mee’lay!«, maulte Daa’tan.
    (Und ich will zurück an den Kratersee! Das ist noch lange kein Grund, wie ein Yakk die Stufen herunter zu trampeln! Ich wünsche, dass du dich unauffällig benimmst, Daa’tan! Und lass den Mann vorbei!)
    Der letzte Befehl erstaunte den Jungen. Er ging hinter Grao’sil’aana her, wie konnte der also wissen, dass ihnen jemand folgte? Hatte er Augen im Hinterkopf? Daa’tan war so beeindruckt, dass er seine trotzig verschränkten Arme sinken ließ und beiseite trat. Ein Mönch zwängte sich vorbei. Die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht, und ein Erwachsener hätte kaum mehr erspäht als Schlagschatten und grauen Stoff.
    Aber Daa’tan war ein Junge. Er reichte dem Mönch nur bis zur Schulter, und so sah er etwas, das den Blicken anderer verborgen blieb: Der Kuttenmann hatte blutrote Augen.
    ***
    Der Tag ging zur Neige. Von günstigen Winden getrieben pflügte die Roter Bhagar durchs Wasser. Die sinkende Sonne tauchte den Zweimaster in warmes, goldenes Licht. Es spiegelte sich in Daa’tans Augen.
    Der Junge stand mittschiffs an der Reling und blickte hinaus aufs Meer, wo sich vor dem Abendrot eine schwarze Silhouette abzeichnete. Sumatra. Die Pirateninsel! So nah und doch so unerreichbar! Daa’tan seufzte schwer.
    Ein Matrose, der das missverstand, kam heran und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Keine Angst, mein Junge! Wir sind gleich aus der Meeresenge von Malakka heraus! Sobald die Roter Bhagar offenes Gewässer erreicht hat, ändern wir den Kurs. Ab dann segeln wir in weitem Abstand an Sumatra vorbei.«
    »Wie schön«, sagte Daa’tan düster.
    Der Matrose lachte. Er stellte sich neben ihn, verschränkte die Arme auf der Reling und bemühte sich um ein Gespräch. »Ich bin Sam. Tut mir Leid, was dir passiert ist! Es muss hart für dich gewesen sein, ich meine, der Untergang von eurem Schiff, und dass die Leute alle ertrunken sind.«
    Daa’tan beugte sich vor und spuckte über Bord.
    »Mein Messer ist weg«, sagte er nur. Er stützte das Kinn auf die Fäuste, und seine vorgeschobene Unterlippe schimmerte feucht.
    Sam betrachtete ihn von der Seite. »Du kriegst bestimmt ein neues Messer. War das alte denn was Besonderes? Ein Geschenk vielleicht?«
    »Ich hab es gefunden.« Daa’tan löste sich von der Reling. Er hatte keine Lust auf Unterhaltung. Er wollte leiden, und da störte es, wenn jemand tröstend auf ihn einsprach. Andererseits waren die Umstände des Fundes zu gut, um sie für sich zu behalten. Deshalb sagte er über die Schulter: »Einmal schwamm ein toter Pirat in der Dünung. Ich bin zu ihm hin gegangen, hab ihn umgedreht und das Messer entdeckt. In den Griff waren Zeichen geritzt.«
    Er erschrak, als Sam ihn hart am Arm packte.
    »Das Gesicht!«, stieß der Matrose hervor. »Wie sah das Gesicht von dem Mann aus?«
    Daa’tan riss sich los. »Er hatte keins. Die Fische haben es gefressen.«
    »Und das Messer? Du sagtest, da waren Zeichen darauf. Was für Zeichen?«
    Daa’tan wurde misstrauisch. »Warum willst du das wissen?«
    Sam atmete durch. Er lächelte. »Na ja, weil es so spannend klingt. Wenn der Mann ein Pirat war, könnten die Zeichen auf dem Messer eine Schatzkarte sein!«
    »Hab ich auch gedacht.« Daa’tan nickte und sah zu dem Matrosen auf. Er wartete einen Moment. Doch die Hoffnung, dass ihm Sam vielleicht eine aufregende Schatzsuche vorschlagen würde, erlosch so schnell, wie sie aufgekeimt war. Daa’tan ärgerte es, dass der Matrose nur eine dumme Frage hinterher schickte.
    »Weißt du noch, wie die Zeichen aussahen?«
    »Ja, sicher«, murrte der Junge. »Es nützt aber nichts, denn wir segeln ja in weitem Abstand an Sumatra vorbei .«
    Daa’tan ließ den Matrosen stehen. Vor dem Bug war ein großer schwarzer Fisch unterwegs, der in hohem Bogen aus dem Wasser sprang und dabei knurrte. Den wollte er sich ansehen. Er bemerkte nicht, dass Sam geradewegs zum Kapitaan eilte, der achtern auf einer Holzbank saß und sein Abendessen einnahm. Auch das Geflüster der beiden
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