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178 - Die vergessene Macht

178 - Die vergessene Macht

Titel: 178 - Die vergessene Macht
Autoren: Stephanie Seidel
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Töten?
    Daa’tan schrak zusammen, als er ein leises Geräusch hörte. Er hob das Schwert aus der Halterung, fuhr herum, blickte gehetzt durch den Raum. Nichts. Keiner da. Aber vielleicht lauerte jemand vor dem Eingang?
    Nuntimor lag schwer in der Hand, dennoch vermittelte es dem Jungen ein Gefühl von Unbesiegbarkeit. Er marschierte energisch durchs Gewölbe, und es war ihm egal, dass er dabei ziemlichen Lärm verursachte. Eine Vase versperrte den Weg – er trat sie weg. Daa’tan fluchte sogar, als er schmerzlich an die Kante eines Schreines stieß. Darin lag unter Glas ein braun verdorrtes Skelett, auf Seide gebettet und von kleinen Buddhas umringt. Als Drohung an den unsichtbaren Gegner draußen schlug Daa’tan mit dem Fackelstock das Glas ein. Funken flogen.
    Doch auch im Gang war niemand zu sehen, so weit das Licht der Fackel reichte. Daa’tan kehrte ins Gewölbe mit den Wandreliefs und den verzierten Bodenplatten zurück. Hier musste irgendwo ein geknickter Pfeil sein – das letzte Zeichen auf seinem Messer. Es markierte den Weg in die Freiheit.
    ***
    Die Sonne sank. Der Wind hatte gedreht und strich als frische Brise landeinwärts. Einsam und majestätisch ragte der Tempel von Borabundu aus der Dämmerung auf.
    Das gigantische Bauwerk sah so friedlich aus mit seinen verwitterten Mauern und dem Heer der Tausend Buddhas. So harmlos! Nichts deutete an, welche Dramen sich im Inneren dieses uralten Zeitzeugen abgespielt hatten; wie viele Geheimnisse und Todesfallen seine verborgenen Gänge füllten. Ein paar Vögel hockten auf den Steinkanten, plusterten ihr Gefieder und genossen das wärmende Abendrot.
    »Grao! Ich bin so froh, dass du lebst!« Daa’tan trat vor und umarmte den Daa’muren.
    (Aber natürlich bist du das!) , scholl es spitz zurück.
    (Keinen Moment hast du an etwas Anderes gedacht als an mich, und selbstverständlich war es dein fester Vorsatz, dieses Schwert gegen mein Leben einzutauschen. Ich meine das Schwert, das du soeben ins Gras gelegt hast, als wäre es ein rohes Ei.)
    Daa’tan lachte. »Komm schon, Grao! Es ist ja vorbei! Du hast dich selbst gerettet, und ich habe Nuntimor. Alles ist gut. Vielen Dank übrigens, dass du hergekommen bist, um mich zu retten! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich deine Stimme gehört habe! Da ist nämlich die Decke runtergekommen, weißt du, die hatte ich auf dem Kopf, und ich dachte, ich würde zerquetscht – platt wie ein Blattfisch! – das muss man sich mal vorstellen!«
    (Ich versuche es gerade, und ich gebe zu, dass das Bild einer derart erzwungenen Sprachlosigkeit deinerseits eine gewisse Befriedigung in mir auslöst!) Grao’sil’aana wandte sich ab.
    (Und nun komm! Wir müssen den Strand erreichen, ehe es dunkel wird!)
    »Du willst doch nicht etwa auf das Schiff zurück?«, fragte Daa’tan verblüfft. Er hob das Schwert auf und rannte los. Sein Schwert! Daa’tan lächelte stolz.
    Er lächelte auch, als er hörte, dass die Roter Bhagar inzwischen entweder seeuntüchtig oder gesunken war.
    Daa’tan trottete neben Grao’sil’aana her, schwenkte Nuntimor nach links und rechts und schlug die Luft in Streifen, während er sich die ganze Geschichte erzählen ließ.
    Er hörte erst auf zu lächeln, als der Daa’mure ihn ruckartig zur Seite riss. Ein Messer flog knapp an Daa’tan vorbei, fiel und blieb zitternd im Erdreich stecken. Der Junge fuhr herum. Hinter ihm stand eine Schreckensgestalt.
    Crologg war kaum wieder zu erkennen. Sein Gesicht war schwarz von getrocknetem Blut, das Haar hing ihm wirr herunter, die Kutte war zerrissen. Nur seine Augen – diese unheimlichen roten Augen – waren unverändert böse und kalt. Crologg ließ keinen Blick von Daa’tan, während er nach dem zweiten Messer tastete. Das erste hatte ihm der Junge selbst gegeben, damit sich Crologg aus der zugeschlagenen Tür befreien konnte.
    »Gib mir das Schwert!«, befahl er heiser.
    Daa’tan hob das Kinn. »Ich denke nicht daran!«
    »Du gehorchst, oder ich töte dich!« Crologg hob den Arm wie zum Wurf.
    Grao’sil’aana räusperte sich. »Soll ich dir sagen, warum du das nicht tun wirst? Männliche Primärrassenvertreter praktizieren in Situationen wie dieser ein völlig irrationales, testosterongesteuertes Ritual, das jedem Vernunftbegabten die Zeit und Gelegenheit verschafft, effektive Gegenmaßnahmen einzuleiten.«
    Der Daa’mure ließ seinen Wirtskörper lächeln, weil Crologg ihn so verständnislos anstarrte. Dann erklärte
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