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Die letzte Praline

Die letzte Praline

Titel: Die letzte Praline
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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KAPITEL 1

    Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …
    … nämlich viel zu schnell zu Ende.
    Die Dampflok hielt schnaubend und mit quietschenden Bremsen im Bahnhof der westflandrischen Stadt Brügge, der wie eine Insel des Lichts im Dunkel der herbstlichen Nacht aufgetaucht war.
    Natürlich dampfte der Zug nicht, schließlich war dies das 21.   Jahrhundert, doch für Prof.   Dr.   Dr.   Adalbert Bietigheim, Inhaber von Deutschlands einzigem Lehrstuhl für Kulinaristik, fühlte es sich so an. Schließlich strahlte Brügge Tradition und Historie aus, wie eine gute Tasse Tee Wärme und Wohlgefühl. Gerade war ihm allerdings nicht nach Tee, und das wollte wirklich etwas heißen. Gerade war ihm nach Zorn, gerechtem Zorn. Kaum aus dem Zugabteil gestiegen, ging Adalbert forschen Schrittes zur Lok, seinen Foxterrier Benno von Saber ungestüm bellend im Schlepptau. Mit dem goldenen Knauf seines Gehstocks pochte er erbost an die Scheibe des Führerhauses. Das Fenster wurde zur Seite geschoben.
    Von einem mampfenden Mann, eine Tasse heißen Tee in der Hand – Bietigheim erschnupperte eine Feld-Wald-und-Wiesen-Schwarzteebeutelmischung. So einer war das also.
    »Goedenavond«, grüßte der Mampfer ihn.
    Belgisch, oder korrekter das belgische Niederländisch, war eine von Bietigheims leichtesten Übungen. Eng verwandt mit dem Niederdeutschen, seiner Meinung nach eine rustikale Unterform. Passte zu dem Burschen.
    »Anderthalb Stunden zu spät! Für solch eine läppische Strecke! Jetzt ist es mitten in der Nacht, schon nach elf Uhr. Denken Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?«
    »Nein.«
    »Habe ich auch nicht. Da hätte ich ja zu Fuß von Hamburg aus kommen können!«
    »Bestimmt ein schöner Spaziergang.«
    »Jetzt werden Sie mal nicht frech!«
    Der Lokführer biss in eine Stulle. »Zurzeit werde ich nur satt.« Er lehnte sich hinaus und bot Bietigheim seinen Tee an. »Auch einen Bissen? Oder einen Schluck? Ist gut für die Nerven, irre gesund.«
    »Erzählen Sie mir nichts über Tee! Ich bin Professor Dr.   Dr.   Adalbert Bietigheim!«
    »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind Sie nicht Fernsehkoch?«
    »Professor!«
    »Ich hab Sie mal irgendwo gesehen – da waren Sie aber viel netter.«
    »Das kann nicht sein. Ich bin nicht nett. Ich bin Gelehrter!«
    Der Lokführer nahm noch einen Schluck und lächelte zufrieden. »Genießen Sie den Abend. Ist es nicht ein wundervoller Abend? So warm, und die Sterne. Herrlich. Ich fahre jetzt nach Hause zu meiner Frau und lege die Füße hoch. Und morgen beginnt die Weltmeisterschaft der Chocolatiers. Die sollten Sie sich anschauen, Schokolade ist nämlich auch gut für die Nerven.«
    Er schloss das Fenster und wandte sich ab.
    Adalbert schlug noch einige Male mit seinem Spazierstock dagegen, doch es wurde nicht mehr geöffnet.
    Die Nacht funkelte sternenklar über ihm, und der Wind blies eine angenehm kühle, salzige Brise von der nahen Nordseeküste über die Bahngleise. Brügge meinte es gut mit Bietigheim. Seinen ledernen Koffer in der Hand, wandte er sich von der Lok ab und machte sich auf den Weg zum Hotel. Wie immer trug er einen Maßanzug von einem der besten Schneider der Londoner Einkaufsstraße Savile Row sowie handgenähte Budapester Schuhe aus Vigevano. Seine rote Seidenfliege lockerte er für den Spaziergang nur wenige Millimeter. Nur eine Viertelstunde zu Fuß, für einen Hamburger ein Klacks. Womit Adalbert Bietigheim jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass es zwar nur ein kurzes Stück Weg, doch eine Reise in der Zeit war. Je näher er dem mittelalterlichen Zentrum der Stadt kam, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden war, desto mehr wurde die Uhr zurückgedreht, um Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Brügge war fraglos das größte Freilichtmuseum Belgiens. Die Altstadt war von Wallanlagen mit Windmühlen und Kanälen umgeben, die von keinem Krieg und durch keinen großen Brand zerstört worden waren.
    Jetzt, kurz vor Mitternacht, waren nur ganz vereinzelt Menschen unterwegs, Brügge war eine Stadt der Schatten und, mehr noch, der Dunkelheit, die sich in den engen Gassen wohlfühlte und Passanten auflauerte. Es hätte nur noch gefehlt, dass Bodennebel durch die Stadt kroch, doch auch so spürte Benno von Saber die unheimliche Stimmung und hielt sich nahe bei Adalbert Bietigheim, als sie über das Kopfsteinpflaster gingen.
    Als Bietigheim in die Lendestraat einbog, gingen plötzlich sämtliche Lichter aus. Stromausfall. Das passierte wohl öfter.
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