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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm
Autoren: Stephanie Seidel
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fühlte sich gegängelt, Grao'sil'aana sah die unfreiwillig übernommene Aufgabe eines Bewachers als unter seiner Würde an.
    Den letzten Krach hatte es vor ein paar Wochen gegeben. Daa'tan und Grao'sil'aana waren aus Kara'ki kommend nach Induu gereist, auf der Suche nach dem brennenden Felsen, den der Junge in einer Vision gesehen hatte. Sie segelten in Küstennähe zur Südspitze des Landes und verließen dort ihr Schiff. Während der darauf folgenden Wanderung Richtung Radschahmandri kamen sie in die Hauptstadt eines Lokalfürsten, der gerade zur Taratzenjagd im Dschungel blies und nach mutigen Treibern suchte.
    Daa'tan war Feuer und Flamme, doch sein Bewacher wollte nichts davon hören. Also lief der Junge weg – wieder einmal. Bis Grao'sil'aana ihn aufgespürt hatte, war Daa'tan schon vereidigtes Mitglied der fürstlichen Jagdgesellschaft, da konnte man ihn nicht mehr einfach mitnehmen. Der Daa'mure musste seine gesamten suggestiven Fähigkeiten aufbieten, um den Zwölfjährigen loszueisen. Die Sache war lebensgefährlich, und sie endete in ihrer Flucht mit dem nächstbesten Schiff Richtung Bono.
    Daa'tan und Grao'sil'aana waren die einzigen Passagiere an Bord einer zweimastigen Brigantine mit Rundbug und Spiegelheck. Dieser Schiffstyp wurde bevorzugt von Piraten benutzt, und genau deshalb hatte der Eigner sie gekauft. Auf dem kürzesten Weg nach Bono musste das Schiff durch die Straße von Malakka, auf deren Westseite Sumra lag. Es war großflächig von Freibeutern besiedelt, die in der Meeresenge kreuzten und alles überfielen, was lohnenswert aussah. Ein fremdes Piratenschiff war jedoch nicht lohnenswert, sondern gefährlich, wenn man sich ihm näherte. Deshalb fuhr der kluge Käpt'n unter der Schwarzen Flagge, dem Zeichen der Piraten.
    Das Schiff hatte eine Ladung Setzlinge an Bord, lauter kleine Bäume, die in Bono guten Gewinn einbrachten.
    Das Land war kahl, seit ein Riesenschwarm mutierter Miniermotten dort gewütet hatte. Nur die resistenten Kokospalmen hatten den Angriff überlebt – Glück im Unglück, denn mit den großen, saftigen Ko'koos besaß die Insel einen letzten begehrten Exportartikel.
    Daa'tan stapfte die Treppe hinunter und durch den engen Gang zum Frachtraum. Es war heiß wie in einem Glutofen unter Deck. Nur wer etwas zu erledigen hatte, hielt sich dort auf – und wer nicht fliehen konnte. Der Junge warf einen mitleidigen Blick auf die kleinen Bäume. Dicht an dicht standen sie in dem dunklen, feuchtschwülen Schiffsbauch. Ihr zartes Geäst war zerknickt vom Beladen, die Blätter hingen schlaff herab.
    Daa'tan sah das Wurzelgewirr am Boden und spürte förmlich den Durst, den die Pflanzen litten. Er streichelte ein paar von ihnen.
    »Haltet durch!«, bat er, wandte sich um – und prallte gegen eine haarige Brust.
    »Na, Junge, redest du wieder mit dem Grünzeug?«, fragte Ravi Shan, ein Mann mit grauen Bartstoppeln und der lederartigen, braunen Haut der Seefahrer. Er hielt ein paar Leinentücher hoch. »Hier! Ich hab noch alte Segelreste gefunden, die kannst du haben.«
    »Danke!«, sagte Daa'tan überrascht.
    Der Seemann lächelte und zauste ihm den Schopf.
    »Weißt du, erst dachte ich, du wärst verrückt mit deinem ewigen Gestreichel und Gerede. Aber dem Grünzeug scheint es zu gefallen! Ich hab schon zum Käpt'n gesagt: So wenig Verlust bei der Ladung hatten wir noch nie! Hättest du nicht Lust, anzuheuern?«
    Daa'tan verzog das Gesicht. »Nicht wirklich«, meinte er. Dann sah er hoffnungsvoll zu Ravi Shan auf. »Erzähl mir noch was von den Piraten!«
    »Wenn's dir Spaß macht.« Der Seemann setzte sich ächzend auf eine Holzkiste, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und begann mit einer blutrünstigen Schauermär. Daa'tan tauchte das Leinen in ein Wasserfass. Er flüsterte mit den Setzlingen, während er ihnen ein triefendes Tuch um die Wurzeln band, und man konnte zusehen, wie sich die kleinen Bäume belebten.
    Plötzlich zog ein unheimliches Heulen über Deck.
    Daa'tan hob den Kopf. »Was war das?«
    Ravi Shan stand auf. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Brauen gebildet. »Da ist was im Anmarsch, Junge! Entweder gibt es gleich einen ordentlichen Sturm oder ein Gewitter. Auf jeden Fall solltest du schön unter Deck bleiben, bei deinen Bäumen.«
    Die Stimme des Kapitäns erscholl. »Alle Mann an die Segel!«
    Ravi Shan ging los. Er drehte sich noch einmal zu Daa'tan um. »Brauchst keine Angst haben, falls es gleich ein bisschen rau wird! Hier unten bist du
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