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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm
Autoren: Stephanie Seidel
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sicher!«
    Eine halbe Stunde später hatte der Sturm die Straße von Malakka erreicht. Während hundertfünfzig Seemeilen weiter nördlich Aruula dem Toben der Elemente zu entkommen versuchte, brachte sich ihr Sohn in tödliche Gefahr. Daa'tan hatte noch nie einen richtigen Sturm gesehen und dachte, er würde unter Deck ein spannendes Abenteuer verpassen. Für den Zwölfjährigen war Sturm gleichbedeutend mit Gischt und Wellen und flatternden Segeln. Vielleicht kam ja auch noch ein Piratenschiff vorbei!
    Die Wirklichkeit sah anders aus.
    Der Kapitän war ein umsichtiger Mann und hatte mit zunehmender Windstärke die Segel bergen lassen; Reihe um Reihe, von oben nach unten. Jetzt fuhr die Brigantine noch mit Unterbesan- und Untermarssegel sowie den unteren Stagsegeln. Weniger ging nicht, und so sollte das Schiff den Sturm abreiten.
    Das tat es auch – nur verlor es dabei Menschenleben.
    Rauschende Brecher schlugen auf Deck. Daa'tan hatte sich mit Grao'sil'aana nach achtern geflüchtet, wo der Käpt'n am Ruder stand und verbissen versuchte, den Segler auf Kurs zu halten. Die Küste von Meelay war gefährlich nahe, dort gab es Klippen und Untiefen, denen er unbedingt ausweichen musste.
    Anfangs hatte es Daa'tan lustig gefunden, wenn die Brigantine weit nach oben und nach unten schwang.
    Auch das viele Wasser, das an Bord geschaufelt wurde, beunruhigte ihn nicht, schließlich floss es ja wieder ab.
    Inzwischen aber war ihm der Spaß vergangen: Es kam kein Wasser mehr an Bord, sondern eine schäumende Flut, und das Schiff schwang nicht mehr – es tauchte bis weit über den Bug! Einmal brachte es ein Ungeheuer mit.
    Schwarz und glänzend wand sich etwas auf dem Vordeck, das aussah wie gigantische verknotete Würmer.
    Es wurde mit dem nächsten Brecher Richtung Fockmast gespült, wo es sich nach allen Richtungen ausbreitete, ehe es ablief. Das war der Moment, in dem Daa'tan nach achtern floh.
    Da stand er nun und bangte um sein Leben.
    Grao'sil'aana hatte ihm noch ein Seil um den Leib binden können, damit der Junge nicht weggeweht wurde. Mehr konnte er nicht tun, denn scharfe Böen fegten über das Schiff, und wer jetzt losließ, was immer er festhielt, den nahmen sie mit. Drei Seeleute waren bereits über Bord gegangen; teils im Sturm, teils mit den Brechern. Der Käpt'n hatte alle anderen unter Deck befohlen und die Luken schließen lassen.
    Man hörte ihn kaum, als er Grao'sil'aana anbrüllte:
    »Warum bist du nicht mit runter gegangen?«
    »Ich kann nicht! Unten wird mir schlecht!«, brüllte der getarnte Daa'mure zurück.
    »Hä?« Der Käpt'n nahm eine Hand vom Ruder und hielt sie ans Ohr. Prompt glitt das Ruder aus der Führung. Die Brigantine drehte sich. Ihr Bug zielte auf die Küste.
    (Ich sagte: Ich kann nicht! Unten wird mir schlecht!
    Und jetzt lässt du deine Hände dort, wo sie hingehören! Du bringst uns sicher an Land, hast du verstanden?)
    »Ja, Herr!« Der Käpt'n starrte Grao'sil'aana voll Entsetzen an. Er hatte dessen Stimme in seinem Kopf gehört.
    Das Heulen und Tosen nahm zu. Daa'tan war bis auf die Haut durchnässt; das harte, peitschende Wasser tat ihm weh, und er rang verzweifelt nach Luft. Immer höher wurden die Wellen, immer mehr kamen herauf.
    Schneller und schneller. Daa'tan hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen.
    Die beiden Kanonen an Steuerbord wurden aus der Halterung gerissen. Rumpelnd rollten sie nach Backbord, krachten durch die Schiffswand und verschwanden. Das Flaggentopp brach und wirbelte samt der Schwarzen Flagge davon. Sie landete am Strand einer Bucht, auf die der Käpt'n zu hielt.
    Es gelang ihm, vor der Brandung Anker zu werfen.
    Seine Besatzung machte die Boote klar. Das Schiff tobte wie ein bockendes Pferd, während sich die Seeleute mit ihren beiden Passagieren durch Wind und tosende Brecher kämpften. Noch bevor sie den Strand erreichten, rissen die Ankertaue; die kleine Brigantine wurde abgetrieben und verschwand in tiefen Wellentälern.
    Daa'tan staunte, als er den Käpt'n sah. Er weinte.
    ***
    15. August, 17:30 Uhr
    Südchinesisches Meer, Höhe Mukah (Malaysia Ost)
    »Dahinten kommt ganz schön was runter!«, sagte ein Matrose im Vorbeigehen. Rulfan folgte den Blicken des Induu, und tatsächlich: Im Westen zog eine düstere Wolke auf. Die grauen Streifen an ihrer Unterseite berührten das Meer.
    »Ich hätte auch gern ein bisschen Regen!« Der Albino fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sein fahlweißes Haar klebte ihm feucht an der Kopfhaut, sein Gesicht
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